Grundsatz oder doch lieber Ausnahme?
Bei der Lektüre von Gerichtsurteilen erhält man hin und wieder den Eindruck, dass diejenige Person, welche die Begründung redigiert hat, anders entschieden hätte. Dieser Gedanke ist mir bei BGer 6B_62/2024 vom 13.09.2024 gekommen. In diesem Entscheid werden Dutzende von Präjudizien zitiert, nur um am Ende dann doch zum Ergebnis zu kommen, man könne ergebnisorientiert entscheiden.
Ergebnis in diesem Fall: Der Anklagegrundsatz ist nicht verletzt, wenn dem Beschwerdeführer in der Anklage ausdrücklich vorsätzliche Tatbegehung vorgeworfen wird, das Gericht ihn dann aber wegen fahrlässiger Tatbegehung verurteilt hat.
Zur Theorie äussert sich das Bundesgericht u.a. so:
Weiter muss klar sein, ob dem Angeklagten Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorgeworfen wird (BGE 120 IV 348 E. 3c). Dies gilt grundsätzlich auch für die Anklage von Verkehrsregelverletzungen (vgl. Urteile 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 E. 1.5.2; 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.2.1; 6B_1452/2019 vom 25. September 2020 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 146 IV 358), die sowohl bei vorsätzlicher als auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sind (vgl. Art. 90 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 100 Ziff. 1 SVG; oben E. 1.4.2) [E. 3.3. Hervorhebungen durch mich].
Man müsste eigentlich sogar sagen, dass das insbesondere dann gilt, wenn sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Begehung strafbar sind. Im vorliegenden war das alles aber ohnehin nicht wichtig:
Damit stellt die Anklageschrift nachvollziehbar dar, dass und weshalb sie dem Beschwerdeführer in objektiver Hinsicht vorwirft, eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet zu haben. Ein bewusstes Verhalten respektive die Umstände, aus denen auf ein solches bewusstes Verhalten zu schliessen wäre, werden in der Anklage alsdann zwar nicht umschrieben. Weder dies noch der Umstand, dass die Vorinstanz auf eine fahrlässige Tatbegehung schliesst, verletzt indes den Anklagegrundsatz. Wie erwähnt reicht nach der Rechtsprechung die Schilderung des objektiven Tatgeschehens für eine Anklage wegen vorsätzlicher Tatbegehung grundsätzlich aus, wenn sich daraus die Umstände ergeben, aus denen auf einen vorhandenen Vorsatz geschlossen werden kann. Andererseits ergibt sich die für die Annahme von Fahrlässigkeit erforderliche Pflichtverletzung, auch wenn wie vorliegend in der Anklage nicht explizit erwähnt, aus der im Strassenverkehr allgemein geltenden Pflicht zur Aufmerksamkeit und der als bekannt vorausgesetzten Kenntnis der Verkehrsregeln (vgl. oben E. 3.3) und ist damit dem zur Anklage erhobenen Vorwurf einer groben Verkehrsregelverletzung inhärent. Folglich wird dem Beschwerdeführer Vorsatz und Grobfahrlässigkeit vorgeworfen (vgl. auch Urteil 6B_870/2018 vom 29. April 2019 E. 2.4) [E. 3.4, Hervorhebungen durch mich].
Eben nicht! Das Bundesgericht hält es selbst mehrfach fest, zuletzt hier:
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschwerdeführer in der Anklage vom 9. September 2022 eine vorsätzlich grobe Verletzung der Verkehrsregeln “im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 4a Abs. 5 VRV” vor (E. 3.4, Hervorhebungen durch mich).
Und das hier ist dann aus meiner Sicht das Eingeständnis für den Fehlentscheid:
Im Übrigen ist das Anklageprinzip nicht Selbstzweck [ich ahnte es!]. Aus der vorliegenden Anklageschrift geht genügend klar hervor, welcher reale Lebenssachverhalt zur Anklage erhoben und welches Verhalten dem Beschwerdeführer konkret vorgeworfen wird. Damit einhergehend werden die äusseren Umstände, anhand derer auf den subjektiven Tatbestand geschlossen werden kann, genügend beschrieben. Angesichts des Charakters des Straftatbestandes von Art. 90 Abs. 2 SVG ist es Aufgabe des Gerichts, diese Würdigung im Rahmen der Fällung des Sachentscheides – und dabei namentlich anhand der Parteivorbringen – vorzunehmen und musste der Beschwerdeführer damit rechnen, der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig gesprochen zu werden (vgl. wiederum Urteil 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 und dort E. 1.6.4). Der Beschwerdeführer zeigt denn auch nicht ansatzweise auf, inwiefern ihm eine wirksame Verteidigung verunmöglicht gewesen wäre (Art. 42 Abs. 2 BGG). Dies ist auch nicht ersichtlich (E. 3.4, Hervorhebungen und Klammerbemerkung durch mich).
Das Bundesgericht tut so, als sei vorsätzliche und fahrlässige Begehung praktisch identisch. Es handelt sich aber um strukturell andersartige Delikte, die auch völlig unterschiedlich verteidigt werden müssen. Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit können und dürfen nicht verteidigt werden, wenn ihre Elemente aus der Anklage nicht hervorgehen. Und wenn wie hier Vorsatz angeklagt ist, sind sie selbstverständlich nicht in der Anklage enthalten. Nun kann es natürlich sein, dass dem Ankläger selbst nicht klar ist, ob er nun Vorsatz oder Fahrlässigkeit anklagen soll. Dann kann er immer noch mit einer Eventualanklage operieren. Aber in Zukunft ist es ja vielleicht ohnehin egal, was angeklagt ist.
Das Urteil der Vorinstanz wurde hier aber dennoch kassiert, weil der bedingte Vollzug einer Vorstrafe bundesrechtswidrig widerrufen wurde.
Ist die Argumentation der Bundesrichter Denys, Muschietti, von Felten widersprüchlich, dann ist ihr Entscheid willkürlich.
@KJ: “Aber in Zukunft ist es ja vielleicht ohnehin egal, was angeklagt ist.”
Das war es leider auch schon vielfach früher …
@Henry: Stimmt. Ich verstehe es einfach nicht. Wieso werden Prinzipien über Bord geworfen, wenn man sonst jemanden freisprechen müsste, von dem man glaubt, er habe sich durchaus strafbar gemacht. Ein strenger Massstab würde die Qualität und die Berechenbarkeit der Justiz erhöhen. Je weniger Prinzipien- und Formstrenge, umso unberechenbarer wird die Strafjustiz. Dies u.a. mit der Folge, dass man – wenn man es sich leisten kann – auch dann ein Rechtsmittel ergreifen muss, das eigentlich aussichtslos sein müsste. Vielleicht hat man ja Glück.
Ein strenger Massstab sowie mehr Sorgfalt, Qualität der Erstinstanzen/Staatsanwaltschaften könnte m.E. auch die Arbeitslast der Berufungsinstanzen verringern, Verfahren verkürzen, Kosten sparen. Und Betroffene würden faire, rechtmässige Urteile eher akzeptieren (können) statt sie anzufechten. Ich meine, mal gelesen zu haben, dass die Einhaltung von Verfahrensgarantien in der Sache (materiell) zu meist vertretbaren Urteilen führt.
Warum wirft die Justiz zuweilen Prinzipien über Bord? M.E. vor allem, weil sie keinen wirksamen Druck spürt. Rechtliche Folgen für Justizpersonen? Wirksame Qualitätskontrolle? Kaum bis keine bzw. sehr selten (wenn Ereignisse mal länger öffentlich diskutiert werden). Bei Verfehlungen stehen sie faktisch meistens über dem Gesetz, sind in ihrer Amtsausübung beinahe unantastbar. Höchstens wird mal ihr Entscheid aufgehoben, wen juckt das?
Unbeschränkte, unkontrollierte Macht enthemmt, wird tendenziell missbraucht. Auch in der Politik, Wirtschaft und Geschichte ist dies m.E. festzustellen.
Richtig, absoluter Fehlentscheid. Nebst der Frage der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit, welche beide unter Beweis zu stellen wären, muss auch die Sorgfaltspflichtverletzung Gegenstand des Beweisverfahrens sein. Bei fahrlässigen SVG-Delikten wird aus rein praktischen Gründen aus der Verkehrsregelverletzung auf eine vorhandene Sorgfaltspflichtverletzung geschlossen, so nach dem Motto: wäre der Lenker genügend aufmerksam gewesen, hätte er erkennen müssen, dass er vortrittsbelastet ist, dass die Höchstgeschwindigkeit nur 30 km/h ist, dass etc., also war er ungenügend aufmerksam, wenn er die Vortrittsbelastung nicht beachtet hat, die Höchstgeschwindigkeit überschritten hat etc., was gerade verkehrt herum falsch ist: die Sorgfaltspflichtverletzung muss der Grund für die Verkehrsregelverletzung sein. Eine solche fehlt bspw., wenn die Sicht auf die Signalisation der Höchstgeschwindigkeitssignalisation durch ein Hindernis verhindert wurde etc. Die Gerichte wollen natürlich solche Rechtfertigungen bereits im Keim ersticken und sich mit diesen schon gar nicht auseinandersetzen müssen…
@Niggi: sehr schön erklärt. Danke dafür.
Und das ist dann der faire Prozess wo die Anklage nicht begünstigt ist?