Grundsatzentscheid zum Unternehmensstrafrecht

Art. 102 StGB kommt nur zur Anwendung, wenn die im Unternehmen begangene Anlasstat ein Verbrechen oder Vergehen ist. Das Bundesgericht hatte kürzlich in öffentlicher Verhandlung zu entscheiden, ob Art. 6 OBG die Strafbarkeit von Unternehmen auf Übertretungen ausdehnt (vgl. dazu Art. 102 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 in fine StGB; BGE 6B_252/2017 vom 20.06.2018, Publikation in der AS vorgesehen).

Das Bundesgericht fasst sein Nein in der Medienmitteilung vom 20. Juni 2018 wie folgt zusammen:

Die fragliche Norm verstösst indessen bei einer Anwendung auf Unternehmen als Fahrzeughalter gegen das Legalitätsprinzip, beziehungsweise gegen den Grundsatz “Keine Strafe ohne Gesetz”. Gemäss Strassenverkehrsgesetz (SVG) sind im Bereich der Verkehrsdelikte die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) anwendbar, soweit keine abweichende Regelung besteht. Das Strafgesetzbuch schliesst sodann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen aus, wenn es wie vorliegend um eine blosse Übertretung geht. Da Artikel 6 OBG nicht ausdrücklich auf eine Haftung von Unternehmen als Fahrzeughalter verweist, darf die Bestimmung bei Firmen deshalb mangels einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage nicht angewendet werden.

Und hier der Wortlaut des Entscheids:

3.1.1. Wird in einem Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks ein Verbrechen oder Vergehen begangen und kann diese Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden, so wird das Verbrechen oder Vergehen dem Unternehmen zugerechnet (Art. 102 Abs. 1 erster Satz StGB). Gemäss Art. 105 StGB sind die Bestimmungen über die Verantwortlichkeit des Unternehmens (Art. 102) bei Übertretungen nicht anwendbar. Da juristische Personen nach gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht deliktsfähig sind, sofern nicht ein Bundesgesetz oder kantonales Recht dies ausdrücklich vorsehen (BGE 105 IV 173 E. 3 S. 175; 97 IV 203), haften juristische Personen im Bereich von Übertretungen somit nur gestützt auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Solche sehen etwa Art. 7 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0), der auf dieses Gesetz verweisende Art. 26 des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 1986 gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG; SR 241) und Art. 181 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) vor. Derartige Regelungen gehen als Spezialnormen den allgemeinen Bestimmungen des StGB zur Verantwortlichkeit von Unternehmen vor (vgl. BGE 135 II 86 E. 4.1).
3.1.2. In diesem Zusammenhang ist der in Art. 1 StGB und Art. 7 EMRK verankerte Grundsatz der Legalität zu beachten. Dieser ist verletzt, wenn jemand wegen einer Handlung, die im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet ist, strafrechtlich verfolgt wird, oder wenn eine Handlung, deretwegen jemand strafrechtlich verfolgt wird, zwar in einem Gesetz mit Strafe bedroht ist, dieses Gesetz selber aber nicht als rechtsbeständig angesehen werden kann, oder schliesslich, wenn das Gericht eine Handlung unter eine Strafnorm subsumiert, die darunter auch bei weitestgehender Auslegung nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen nicht subsumiert werden kann (BGE 139 I 72 E. 8.2.1; 138 IV 13 E. 4.1; je mit Hinweisen). Der Begriff der Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK ist autonom auszulegen. Er knüpft an eine strafrechtliche Verurteilung an. Er erfasst alle Verurteilungen, welche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gestützt auf eine gegen eine Person erhobene strafrechtliche Anklage erfolgen. Von Bedeutung sind ihre Qualifikation im internen Recht, das Verfahren, in dem sie verhängt und vollstreckt wird, sowie namentlich ihre Eingriffsschwere. Als Teilgehalt des Legalitätsprinzips verlangt das Bestimmtheitsgebot (“nulla poena sine lege certa”) eine hinreichend genaue Umschreibung der Straftatbestände. Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 138 IV 13 E. 4.1).
Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, das heisst, nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 142 IV 401 E. 3.3, 1 E. 2.4.1; 141 III 195 E. 2.4; je mit Hinweisen; Urteil 6B_1007/2016 vom 10. Mai 2017 E. 1.3.2 f.; je mit Hinweisen).
Gemäss Ausführungen in der Botschaft zu Via sicura bezweckte der Bundesrat explizit, auch juristische Personen als Fahrzeughalter für geringfügige Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung in die Pflicht zu nehmen. Dadurch sollte unter anderem die Problematik gemildert werden, dass “viele Unternehmen oft nicht in der Lage oder nicht willens sind, der Polizei jene Person anzugeben, die das Fahrzeug zur fraglichen Zeit benutzte”. Der für die Feststellung des tatsächlichen Fahrzeugführers in diesen Fällen erforderliche, im Verhältnis zu den Bussen unverhältnismässige Ermittlungsaufwand der Polizei soll nicht zulasten der Allgemeinheit gehen, sondern die Verantwortung der Fahrzeughalter gestärkt werden. Der Bundesrat war sich der mit der Neuerung einhergehenden Schmälerung der Fahrzeughalterrechte bewusst. Er nahm dies aber im Interesse einer ökonomischen Verwaltungs- und Prozessführung in Kauf, zumal die Einschränkung einen ausgesprochenen Bagatellbereich mit Ordnungsbussen bis maximal Fr. 300.– betrifft und die Auferlegung der Busse keinen Strafregistereintrag oder eine Administrativmassnahme zur Folge hat (Botschaft, a.a.O., S. 8486 f.).
3.2. Wie aus dem in Erwägung 2 vorstehend Gesagten erhellt, wollte der Bundesrat mit der Neuregelung von Art. 6 OBG im Rahmen der Via sicura auch juristische Personen als Fahrzeughalter für geringfügige Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung in die Pflicht nehmen. Dies entspricht auch der Auffassung der herrschenden Lehre (vgl. MAEDER/NIGGLI, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 36 zu Art. 102 SVG; STEFAN MAEDER, a.a.O., S. 683 f.; JÜRG BOLL, a.a.O., S. 13 f.; WOLFGANG WOHLERS, a.a.O., S. 11 f.; verneinend dagegen BUSSY/RUSCONI/JEANNERET/KUHN/MIZEL/MÜLLER, in: Code suisse de la circulation routière, 4. Aufl. 2015, N. 1 zu Art. 6 OBG). Der Wortlaut von Art. 6 OBG (oben E. 1.1) sieht eine Verantwortlichkeit von Unternehmen für Übertretungsbussen hingegen nicht ausdrücklich vor. Aufgrund der Anwendbarkeit der allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches, insbesondere von Art. 102 und Art. 105 StGB, im Strassenverkehrsrecht einschliesslich des OBG (dazu Art. 333 Abs. 1 StGB; Urteil 6B_366/2012 vom 17. Oktober 2012 E. 1.2) sowie mangels einer ausdrücklichen, davon abweichenden gesetzlichen Regelung kommt eine Verurteilung juristischer Personen für Übertretungen im Bereich des OBG nicht in Frage. Der auf Art. 6 OGB gestützte Schuldspruch zum Nachteil der Beschwerdeführerin verletzt das Legalitätsprinzip. Er ist aufzuheben.
Da staunt der Laie! Wenn das der neue Massstab für Art. 1 StGB ist, was nur zu begrüssen wäre, dürfte ein nicht unerheblicher Teil der Strafnormen im schweizerischen Recht, insbesondere im Nebenstrafrecht, nicht mehr genügen.
Zurückgewiesen hat das Bundesgericht die geltend gemachten weiteren Rechtsverletzungen ( Unschuldsvermutung / nemo tenetur). Aus der Medienmitteilung:
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Firma in seiner öffentlichen Beratung vom Mittwoch teilweise gut. Unter dem Blickwinkel der in der Bundesverfassung (BV) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Unschuldsvermutung (Artikel 32 BV und Artikel 6 EMRK) ist Artikel 6 OBG nicht zu beanstanden. Die Unschuldsvermutung umfasst auch das “Recht zu schweigen”. Dieses Recht gilt indessen nicht absolut. Gemäss neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben sich für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung und der Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten. Darunter fallen auch Auskunftspflichten gegenüber einer Behörde. Verweigern sie die Auskunft, können sie dazu zwar nicht gezwungen werden. Sie müssen aber trotzdem die Konsequenzen tragen.