Grundsatzfrage zum Sachverständigenbeweis
Ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über eine Person zu erstellen, die noch gar nicht als Täterin oder Tàter verurteilt ist, ist in der Praxis an der Tagesordnung, aber an sich vollkommen unhaltbar. Die Gutachter müssen wohl oder übel aus der Verfolgungsperspektive heraus arbeiten und alle aus den Akten hervorgehenden Umstände so berücksichtigen, als seien sie erwiesen. Sich gegen eine Begutachtung im Vorverfahren wehren zu wollen, ist praktisch aussichtslos und das Bundesgericht sieht darin grundsätzlich auch keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur. In einem aktuellen Entscheid (BGer 1B_406/2021 vom 13.10.2021). hat sich die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts dennoch mit diesen Fragen auseinandergesetzt und u.a. erwogen:
Ob und inwieweit der sachverständigen Person bei unklaren tatsächlichen Verhältnissen aufgetragen werden darf, von bestimmten Sachverhaltshypothesen auszugehen, wurde in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt. Zu dieser Frage bestehen verschiedene Lehrmeinungen (E. 2.2).
Das Bundesgericht übersieht, dass bereits seine Fragestellung falsch ist, denn “unklare tatsächliche Verhältnisse” sind die jede Untersuchung definierenden Merkmale. Sie zu klären ist exklusive Aufgabe der Justiz. Das Bundesgericht “löst” das Problem, indem es unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR anerkennt, dass Gutachter mit Hypothesen arbeiten müssen und das auch können.
Leider ist es in der Praxis aber so, dass man den meisten Gutachten nicht ansieht, dass sie auf Sand (oder eben auf Hypothesen) gebaut sind und die Justiz in die vorverurteilende Verfolgungsperspektive drängen. Das Bundesgericht hält auch das mit Art. 10 StPO vereinbar, äussert aber immerhin Kritik an Fragestellungen, die den Gutachtern unterbreitet werden:
Nicht zu verkennen ist aber, dass die Formulierung der Fragen bei isolierter Betrachtung teilweise ungeschickt gewählt ist. So wird der Beschwerdeführer an einer Stelle dennoch als “Täter” bezeichnet. Auch wird bei ihm von einer “Rückfallwahrscheinlichkeit” bzw. Rückfallgefahr gesprochen, was schon begrifflich seine Täterschaft voraussetzt. Solche Formulierungen lassen sich – anders als im angefochtenen Urteil suggeriert wird – auch nicht etwa unter Hinweis auf entsprechende Wendungen in standardisierten Fragebogen für forensisch-psychiatrische Gutachten wie dem Fragenkatalog für psychiatrische Gutachten der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz (SSK) rechtfertigen. Indessen kann davon ausgegangen werden, dass ein Gutachter die problematischen Formulierungen in einer Konstellation wie der vorliegenden richtig in den Gesamtkontext einzuordnen vermag und sie nicht als (Vor-) Verurteilung der beschuldigten Person missversteht (vgl. zu ungeschickten Äusserungen eines Staatsanwaltes und voreiligen präjudiziellen Äusserungen der Untersuchungsleitung auch BGE 141 IV 178 E. 3.2.3; 127 I 196 E. 2d; 116 Ia 14 E. 6; Urteil 1B_278/2020 vom 18. August 2020 E. 3.3; je mit Hinweisen). Da vorliegend nur vereinzelt problematische Formulierungen verwendet wurden, lässt sich entgegen dem Beschwerdeführer auch nicht annehmen, sie würden den Sachverständigen unterschwellig beeinflussen. Es ist im Übrigen von vornherein nicht davon auszugehen, dass Formulierungen der an den Gutachter gestellten Fragen die freie Beweiswürdigung (vgl. Art. 10 Abs. 2 StPO) durch das später in der Sache urteilende Gericht beeinträchtigen. Ein Verstoss gegen die Unschuldsvermutung von Art. 10 Abs. 1 StPO lässt sich nach dem Gesagten nicht ausmachen (E. 5.3).
Ein äusserst wichtiger Entscheid in Dreierbesetzung und von der (an sich) falschen Abteilung des Bundesgerichts.
Ein weiteres beispiel, warum die frage der erfoderlichkeit der massnahme in ein dem strafverfahren nachgelagertes administrativverfahren ausgelagert werden müsste. Der sache nach handelt es sich bei den “strafrechtlichen” massnahmen nämlich um präventiv orientiertes polizeirecht. Sich dieses einzugestehen, wäre nicht nur ehrlicher, sondern würde auch zu einer klareren diskussion beitragen. Eine verwaltungsrechtliche frage mit strafrechtlichen prinzipien zu behandeln führt zu verqueren situationen und debatten, welche nur frustrieren. Es gibt dafür zahlreiche beispiele, hier ist, wie gesagt, eines davon.
Die Arbeitshypothese „schuldig“ führt insbesondere bei den statistischen Tests zu lauter Zirkelschlüssen; z.B. wird dem Beschuldigten dann jeweils „mangelndes Schuldbewusstsein“ und „mangelnde Übernahme der Verantwortung“ unterstellt, weil man von der Hypothese ausgeht, er sage nicht die Wahrheit. Diese Zirkelschlüsse färben natürlich auf das Kriterium „pathologisches Lügen“ und „manipulatives Verhalten“ etc. ab. So türmt sich Zirkelschluss auf Zirkelschluss, was im Ergebnis stets mindestens zu einer der vielen Arten von Persönlichkeitsstörungen führt, die, wenn der Beschuldigte Glück hat, nicht in einer Verwahrung endet, ihm aber im Vollzug massive Hindernisse für eine bedingte Entlastung in den Weg legt, denn er ja muss auf der Grundlage der Hypothese therapiert werden. Das Vorgehen führt dann etwa zu folgenden Absurditäten im Gutachten: „Ausgehend nun von dem inkriminierten Tatvorwurf respektive Tatvorgehen (damit hypothetisch) lässt sich jedoch die Tatmotivation des Exploranden nicht schlüssig darlegen.“ Natürlich wurde er trotzdem verurteil. – Zu fordern wäre deshalb, dass Gutachter bei nicht geständigen Beschuldigten immer mit zwei Hypothesen zu arbeiten hätten: 1. die für den Beschuldigten günstigere (unschuldig, Notwehr etc.) und 2. die vom Staatsanwalt vorgesehene (und zwar in dieser Reihenfolge). Oder man teilt das Strafverfahren auf und stellt zuerst die Schuld (oder Unschuld) fest, um anschliessend über die Strafe oder Massnahme zu entscheiden.
… was dann eventuell zur Absurdität führen würde, dass jemand schuldig zu sprechen ist, so er denn schuldfähig sein sollte. Ist für den Richter/die Richterin auch nicht einfach!
Nur mal laut gedacht:
Liesse sich dieses Problem dann nicht über ein Tatinterlokut i.S.v. Art. 342 Abs. 1 lit. b StPO lösen?