Gutachterin oder Gehilfin der Staatsanwaltschaft?
Der dritte Fall, den das Bundesgericht heute zur neuen Beurteilung Aarau zurückweist, betrifft eine Verurteilung, die auf einem unklaren Glaubhaftigkeitsgutachten beruhte (BGer 6B_1237/2015 vom 25.02.2016).
Der Sachverhalt enthält Elemente, die nur dank der wahrgenommenen Dokumentierungspflicht der Staatsanwaltschaft überhaupt bekannt wurden. Angesprochen ist damit eine Telefonnotiz über ein Gespräch mit der Gutachterin, das sich (für mich) anhört, als wolle sich die Gutachterin bei der Staatsanwaltschaft für das Ergebnis, das den Beschwerdeführer eher entlastet, entschuldigen:
Laut Aktennotiz der Staatsanwaltschaft Baden vom 12. April 2013 (…) rief die Gutachterin Prof. F. an diesem Tag den Staatsanwalt an. Sie habe ihn gefragt, ob er sich durch das Gutachten gekämpft habe und ob Fragen bestünden. Er habe ihr mitgeteilt, dass seitens der Anwälte keine Ergänzungsfragen und/oder Erläuterungen gewünscht würden, jedoch sei der Tenor der Rückmeldungen, dass nicht so ganz klar sei, ob die Aussagen von A. nun als glaubhaft einzustufen seien oder nicht. Die Gutachterin habe mitgeteilt, dass das eben etwas problematisch sei und daher das Gutachten sehr offen habe formuliert werden müssen. Aufgrund der Gesamtumstände sei sie gezwungen gewesen, verschiedene Möglichkeiten zu diskutieren. Betreffend die Motivationsanalyse, ob sich A. die Geschichte ausgedacht haben könnte, gelte Folgendes. Es seien aus dieser Warte keine Gründe und Hinweise ersichtlich, die für ein Erfinden der Vergewaltigung sprechen würden. Aus aussagepsychologischer Sicht zeitlich völlig unpassend sei die vom Beschwerdeführer geäusserte Vermutung, A. könne sich die Vergewaltigung aus Rache ausgedacht haben. Betreffend Qualitätsanalyse gelte Folgendes. Die Qualität der Aussagen betreffend das Kerngeschehen sei nicht sehr hoch, dafür gebe es aber gute Gründe. Sie wisse nicht, ob aus dem Gutachten genügend herausgekommen sei, dass das ganze Thema Sexualität allgemein für A. sehr mit Scham besetzt sei. A. sei in dieser Hinsicht sehr bieder. Es sei im persönlichen Gespräch gut zu merken, dass sie eigentlich überhaupt nicht über Sexualität sprechen möchte. Dies erkläre, warum die Aussagen zum Kerngeschehen nicht sehr detailliert seien. Diese Tatsache führe naturgemäss zu detailarmen Aussagen und somit zu einer geringen Aussagequalität. Falsch wäre jedoch der Schluss, dass eine detailarme Aussage zum Kerngeschehen automatisch bedeuten würde, dass das inkriminierte Verhalten frei erfunden sei. Vorliegend sei aber in der Gesamtschau problematisch, dass die Qualität der Aussage insgesamt eben nicht genügend gut sei, um die Lügenhypothese mit Hilfe der Qualitätsanalyse gänzlich ausschliessen zu können. Aufgrund der Gesamtumstände habe die gutachterliche Schlussfolgerung daher relativ offengelassen werden müssen, denn technisch-methodisch könne die Lügenhypothese vorliegend eben nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Einem Punkt müsse jedoch grosse Bedeutung geschenkt werden, der vorliegend immer wieder zum Tragen komme, und dem das Gericht anlässlich der Hauptverhandlung Rechnung tragen müsse. A.s Aussageverhalten sei dann problematisch, wenn sie unter Rechtfertigungszwang stehe. In diesen Situationen antworte sie vielfach nicht aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmung in der konkreten Situation, sondern eher schematisch. Dies führe vorliegend zu Widersprüchen, die zwar mit dem Erkennen des Aussageverhaltens von A. gut erklärbar seien, jedoch insgesamt eben doch nicht als unproblematisch eingestuft werden können. Festzuhalten sei aber, dass zumindest das Kerngeschehen erstmals gegenüber dem Ehemann erwähnt worden sei und das gänzlich ohne Rechtfertigungsnotstand. Dieser Aspekt spreche für sich gesehen wiederum doch für die Glaubhaftigkeit des Vorfalls. Der Staatsanwalt hielt in der Aktennotiz abschliessend fest, er habe die Gutachterin wissen lassen, dass er wohl nicht darum herumkommen werde, sie im Hauptverfahren als Sachverständige befragen zu lassen, so dass sie ihre Erkenntnisse dem Gericht eins zu eins mitteilen könne (E. 1.2.2).
Dazu macht das Bundesgericht folgende Ausführungen,
Die telefonischen Ausführungen der Expertin gegenüber dem Staatsanwalt laut der von diesem erstellten Aktennotiz sind nicht als gutachterliche Äusserungen verwertbar (siehe auch BGE 119 V 208 E. 4). Es ist unklar, inwiefern die Aktennotiz die tatsächlichen Äusserungen der Sachverständigen gegenüber dem Staatsanwalt wörtlich beziehungsweise genau wiedergibt. Unklar ist auch, welche Fragen der Staatsanwalt allenfalls der Gutachterin stellte und inwiefern welche Äusserungen allenfalls Antworten auf welche Fragen sind und inwiefern die Antworten durch die Fragen mit beeinflusst wurden. Nichts deutet sodann darauf hin, dass die Sachverständige, bevor sie ihr Gutachten telefonisch zu erläutern begann, vom Staatsanwalt auf Art. 307 StGB betreffend falsches Gutachten hingewiesen worden sei. Die Parteien hatten keine Gelegenheit, das Telefongespräch mitzuverfolgen und allenfalls der Gutachterin Fragen zu stellen. Unerheblich ist, dass die Aktennotiz in die Akten Eingang fand (…) und daher in Ausübung des Akteneinsichtsrechts eingesehen werden konnte und dass allenfalls gerade auch die Aktennotiz für den Beschuldigten hätte Anlass sein können, die Vorladung der Expertin zwecks mündlicher Erläuterung und Ergänzung des Gutachtens zu beantragen (E. 1.3.6).
Als Ergebnis verlangt das Bundesgericht nun eine Erläuterung und Ergänzung des Gutachtens. Die Staatsanwaltschaft erhält damit eine zweite Chance, ihre Anklagehypothesen doch noch zu beweisen. Die Unschuldsvermutung gilt eben erst, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, weil der Beweis der Schuld erbracht ist.
Wenigstens gibt hier noch eine Erläuterung und Ergänzung des Gutachtens, bei mir wurde dieser Wunsch obwohl das Gutachten voller offensichtlichen Fehler war (die Fehlerliste mit detailierten Seiten und Abschnittsangaben umfasste ca. 20 Seiten) vom Sozialversicherungsgericht einfach abgelehnt. Zudem wurde der Gutachter schon vor der Begutachtung aus verschiedenen Gründen abgelehnt, auch das interessierte niemanden. Das war für mich damals auch ein klarer Fall, der wurde ganz gezielt ausgewählt und egal wie viele Fehler das Gutachten nun enthielt, die Hauptsache war das Ergebnis entspricht dem was man wollte. Eine Erläuterung und Ergänzung hätte nur alles kaputt gemacht… Ich frage mich ob es heutzutage überhaupt noch unabhängige saubere Gutachten gibt?!
Artikel 2 Abs 2 StGB-CH in der Fassung vom 1.1.2016 lautet (sog. Lex-Mitior-Regel):
“2 Hat der Täter ein Verbrechen oder Vergehen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen, erfolgt die Beurteilung aber erst nachher, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn es für ihn das mildere ist”.
In der Sache identisch § 2 Abs. 3 StGB-D: Hat der Täter ein Verbrechen oder Vergehen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen, erfolgt die Beurteilung aber erst nachher, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn es für ihn das mildere ist.
Massgeblich ist stets (von Ausnahmen abgesehen, die hier nicht relevant sind), welche zeitlich abfolgende Fassung des Strafgesetzes, die frühere oder die gültige, für den Beschwerdeführer die mildere ist. Vorliegend ist dies unbestrittenermassen (E5.3 Satz “Fehlt es…”) die gültige Fassung vom 1.1.2016 (wegen des nicht erfüllten Zusatzkriteriums der gemeinen Gesinnung), wie das Urteil zunächst richtig festhält.
In dem die folgenden Sätze “Dieses neue …” und “Der…” genau das Gegenteil erwägen – namentlich die Anwendbarkeit der früheren Fassung – verletzen sie also Bundesrecht. Nicht entscheidend ist die angeführte Begründung, nämlich dass eine nicht rechtskräftig urteilende Vorinstanz vor dem Inkrafttreten der heutigen Fassung gesprochen hat (dies war der Fall): In Ermangelung der Rechtskraft liegt gemäss Art 2 Abs 2 StGB-CH (und, wenn der Fall in deutscher Jurisdiktion zu beurteilen wäre, auch gemäss § 2 Abs. 3 StGB-D) keine Beurteilung vor.
Mit anderen Worten: Der Zeitpunkt der nicht rechtskräftigen Erstbeurteilung ist nicht entscheidend bei der Frage der Fassung von sich vermildernden Strafgesetzen, allein massgebend ist der Zeitpunkt der rechtskräftigen Beurteilung. Dies kann, muss aber nicht, die erstinstanzliche Beurteilung sein, hier ist sie es wegen des vom Beschwerdeführer wahrgenommen Rechtswegs nicht.