Haft auch ohne besonderen Haftgrund
Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 12.10.2006 (1P.625/2006) einen für mich nicht nachvollziehbaren Haftentscheid erlassen. Unbestritten war der allgemeine Haftgrund des dringenden Tatverdachts. Das Vorliegen der besonderen Haftgründe der Kollusionsgefahr und der Fluchtgefahr, auf welche die Vorinstanz abgestellt hatte, hat das Bundesgericht verneint und die staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen. Zum Haftentlassungsgesuch, welches das Bundesgericht abweist, stellt es fest:
Nicht geprüft wurde im angefochtenen Entscheid, ob noch der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr vorliegt, auf den sich die Haftverfügungen vom 19. Februar und 17. Mai 2005 stützten. Überdies hat die Haftrichterin nicht untersucht, ob Ersatzanordnungen in Form der Pass- und Schriftensperre oder der Verpflichtung zu regelmässiger persönlicher Meldung bei einer Amtsstelle (§ 72 StPO/ZH) in Betracht fallen. Bei derartigen Ersatzmassnahmen gelten weniger hohe Anforderungen an die Annahme von Fluchtgefahr als bei der Anordnung von strafprozessualer Haft (Entscheid 1P.704/2004 vom 29. Dezember 2004 E. 4).Den kantonalen Behörden ist Gelegenheit zu geben, diese Prüfung nachzuholen. Insofern ist von der Anordnung der sofortigen Haftentlassung abzusehen (E. 6).
Ich habe hier schon mehrfach auf Entscheide hingewiesen, in denen das Bundesgericht die Beschwerde wohl gutgeheissen, das Haftentlassungsgesuch aber abgewiesen hat. Nicht nachvollziehbar ist im vorliegenden Fall, dass das Bundesgericht das Haftentlassungsgesuch aus folgenden zwei Gründen abweist:
- Die Vorinstanz hat die qualifizierte Wiederholungsgefahr nicht geprüft.
[Dazu ist zu bemerken, dass dieser Haftgrund offenbar gar kein Thema war und dass die Beschwerdeführerin somit auch keinen Anlass hatte, sich damit auseinanderzusetzen]. - Die Vorinstanz habe mögliche Ersatzmassnahmen wie Pass- und Schriftensperre nicht geprüft.
[Ersatzmassnahmen setzen doch das Bestehen von Fluchtgefahr voraus, welche das Bundesgericht ja aber gerade verneint hat].
Ich wäre wirklich dankbar, wenn mir diese Rechtsprechung einmal jemand erklären könnte.
Das entspringt wohl der unseligen Praxis gewisser Kantone (jedenfalls Zürich), bei den Hafturteilen so rasch wie möglich mit dem bezirksgerichtlichen Standardsatz im Stile von „Da somit der [Haftgrund 1] vorliegend klar zu bejahen ist, kann auf die Prüfung der[anderen zwei Haftgründe] verzichtet werden“ zu schliessen.
Dies hat teilweise dazu geführt, dass Staatsanwälte dann jeweils gar nicht mehr alle erdenklichen Haftgründe aufzählten oder zu begründen versuchten, um sich den Aufwand zu ersparen. Das Gericht ging ja nachher sowieso nicht drauf ein. Die Katze beisst sich natürlich in den Schwanz, weil wenn die geprüften, oder wie hier noch schlimmer: die geltend gemachten Haftgründe vor Bundesgericht verneint werden, bleibt auf einen Schlag kein Grund mehr für eine weitere Inhaftierung.
Das Bundesgericht versucht nun offenbar diese Konsequenzen zu mildern indem sie das Dossier für eine Art „Bedenkfrist“ nochmals runter schickt. Richtig wäre meines Erachtens, sie formell freizulassen und von den Strafverfolgungsbehörden zu verlangen, sie an Schranken nochmals zu verhaften, sofern sie einen dritten Haftgrund für gegeben erachten. So ist es wiedermal so ein helvetischer „Pragmatismus“.
Im Kern will das Bundesgericht wohl einfach nicht politisch und medial verantwortlich gemacht werden können, wenn sie jemanden in so einer situation freilassen und er weiter delinquiert.
Der Trick des Verteidigers ist aber interessant: Bei einer Haft, die primär mit Kollusionsgefahr begründet wird, zuerst gute Miene zum bösen Spiel machen und den vorzeitigen Strafantritt verlangen, um nachher die Freilassung zu verlangen mit dem Hinweis, Kollusionsgefahr könne ja nicht mehr vorliegen, der Angeschuldigte habe ja seit Wochen freien Zugang zum Telefon. Wenn das Absicht war, dann war das ziemlich gewieft.
Es entsteht tatsächlich der Eindruck, dass die Gerichte die Verantwortung für eine rechtlich an sich zwingende Haftentlassung nicht übernehmen wollen. Ich glaube halt immer noch daran, dass die Gerichte dem Recht verantwortlich sind. Wenn sie diese Verantwortung nicht wahrnehmen wollen, erklären sie den Rechtsstaat bankrott.
Reichlich absurd im vergleich zu diesem Entscheid wird’s ja heute im Entscheid 1P.641/2006 :
„Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheides seine Haftentlassung. Dieses Begehren ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids sondern erst durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 132 I 21 E. 1 S. 22 mit Hinweisen).“ (Hervorhebung nur hier)
Der Textblock fehlt interessanterweise beim anderen Entscheid. So ganz zufällig ja wohl nicht.