Haft- und Sachrichter: zulässige Personalunion

Das Bundesgericht erklärt eine weitere Konstellation für EMRK-konform, in denen Personalunion zwischen Sachrichter und Haftrichter zulässig sein soll (BGer 1B_562/2021 vom 16.11.2021, Fünferbesetzung).. Der Fall betrifft die Praxis, dass die verfahrensleitende Richterin im Anschluss an die Eröffnung des Berufungsurteils über die Sicherheitshaft entscheidet:

Das Bundesgericht hatte bisher keine Gelegenheit, sich mit dieser Konstellation zu befassen, und die Literatur äussert sich dazu, soweit ersichtlich, nicht (im Gegensatz zur Situation, in der ein Richter zunächst über die Haft und später in der Sache entscheidet: s. die Hinweise in BGE 139 IV 270 E. 2.1). Für die Frage der Befangenheit ist dieser Unterschied wesentlich. Im Haftprüfungsverfahren genügt der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte (BGE 143 IV 316 E. 3.1 f. mit Hinweisen). Dagegen ist für eine Verurteilung der Grundsatz “in dubio pro reo” massgeblich. Danach ist entscheidend, ob nach objektiver Würdigung keine unüberwindbaren Zweifel daran bestehen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat erfüllt sind (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 10 Abs. 3 StPO; BGE 144 IV 345 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Diese unterschiedlichen Beweismassstäbe sprechen dafür, beim Sachrichter, der später als Haftrichter amtet und in diesem Zusammenhang über die Frage des dringenden Tatverdachts zu befinden hat, den Anschein der Befangenheit zu bejahen. Da er durch die Verurteilung des Angeklagten zum Ausdruck gebracht hat, dass er keine bzw. höchstens abstrakte oder theoretische Zweifel an dessen Schuld hat, kann er in Bezug auf die sich in einem späteren Haftprüfungsverfahren stellende Frage des dringenden Tatverdachts kaum mehr als unvoreingenommen angesehen werden (E. 3.7).  

Dass der Entscheid falsch ist, scheint dem Bundesgericht auch klar zu sein. Es hat daher dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe damit rechnen müssen, dass der verfahrensleitende Berufungsrichter den Haftentscheid fällen würde, dies aber treuwidrigerweise erst in der Beschwerde geltend gemacht. Das Bundesgericht erklärt dann auch noch, dass und wie man es auch ohne Personalunion machen könnte und dass im vorliegenden Fall gewichtige Gründe für die Befangenheit sprechen:

3.8. Ergänzend ist festzuhalten, dass die Strafprozessordnung und die dazu ergangene Rechtsprechung Raum lassen für die Einsetzung eines Haftrichters, der am Berufungsurteil nicht beteiligt war. Zwar hat das Bundesgericht festgehalten, dass auch nach dem Urteil des Berufungsgerichts in der Sache während der Rechtshängigkeit einer Beschwerde vor Bundesgericht die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts gestützt auf Art. 233 StPO für die erstinstanzliche Behandlung von Haftentlassungsgesuchen zuständig bleibt (BGE 143 IV 160 E. 3.1). Damit wäre an sich Oberrichter Spiess als Präsident des Spruchkörpers, der das Urteil vom 25. Mai 2021 fällte, auch zuständig für die Beurteilung von in diesem Verfahrensstadium gestellten Haftentlassungsgesuchen (Art. 61 lit. c StPO und BGE 139 IV 270 E. 2.1). Allerdings geht aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls hervor, dass der Begriff der Verfahrensleitung in Art. 233 StPO nicht eng zu verstehen ist. Darunter kann auch ein Gremium verstanden werden, dessen Mitglieder nicht am Urteil in der Sache mitwirken (BGE 139 IV 270 E. 2.3 mit Hinweisen).   

3.9. Es sprechen insgesamt gewichtige Argumente dafür, bei Oberrichter Spiess mit Blick auf die Prüfung des dringenden Tatverdachts den Anschein der Befangenheit zu bejahen. Allerdings könnte, wie eingangs dargelegt, die Rüge des Beschwerdeführers nur dann als zulässig angesehen werden, wenn der Befangenheitsgrund geradezu offensichtlich wäre. Das ist zu verneinen. Obwohl es in erster Linie Aufgabe des Staates ist, Situationen der Befangenheit, die sich aus institutionellen (organisatorischen) Gründen ergeben, zu verhindern (BGE 140 I 271 E. 8.4.3), hätte vom Beschwerdeführer gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben erwartet werden können, im vorinstanzlichen Verfahren ein Ausstandsgesuch zu stellen. Mit seinem Zuwarten hat er sein Recht in Bezug auf das vorliegende Haftverfahren verwirkt (Hervorhebungen durch mich).  

Einfach damit es klar ist: fünf von fünf Bundesrichterinnen und Bundesrichtern sind der Meinung, dass hier gewichtige Argumente nicht reichten, um Befangenheit des Haftrichters und eine Verletzung von Art. 5 EMRK zu bejahen. Wenn dieser Entscheid richtig wäre, dann wäre das Erfordernis eines unabhängigen Haftrichters hinfällig. Vorbefasster als ein Richter, der am Sachurteil beteiligt war, kann ein Richter ja gar nicht sein.