Hafterstehungsfähigkeit

Ein wegen gewerbsmässigen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilter 74-jähriger Mann hat mehrfach versucht, den Antritt seiner Strafe hinauszuschieben. Diese Versuche sind mit einem heute publizierten Bundesgerichtsentscheid nun aber (vorerst?) gescheitert (BGer 7B_210/2024 vom 22.05.2024). Der Mann leide

an einer Spinalkanalstenose, chronischen Rückenschmerzen bei Radikulopathie, Diabetes mellitus Typ 2 und COPD, wobei er lediglich seine Rückenbeschwerden als Grund für den Antrag auf Aufschub des Strafantritts vorgebracht habe. Er habe sich am 14. November 2022 einer Rückenoperation unterzogen, befinde sich noch in Rehabilitation, benötige Physiotherapie und müsse Heimübungen ausführen. Aus dem letztgenannten Attest ergebe sich namentlich, dass eine gewisse Verbesserung der Beschwerden seit der Operation eingetreten sei, der Beschwerdeführer aber im Alltag immer noch erheblich eingeschränkt sei und unter Schmerzen leide. Er benötige Unterstützung bei der Körperpflege und beim Sitzen. Es sei von einer Verbesserung der Beschwerden im Verlaufe der Zeit auszugehen, wobei der Zeithorizont nicht abgeschätzt werden könne. Jedenfalls sei aufgrund der vorhandenen Berichte eine weitere Verbesserung zu erwarten. In diese Richtung weise auch die E-Mail von Dr. med. C. vom 27. Februar 2023, wonach der Beschwerdeführer sich selbständig bewegen könne, auf keine Hilfsmittel angewiesen sei und in zwei Monaten keine Behinderung mehr haben bzw. werde Treppen steigen können (E. 2.3, Hervorhebungen durch mich).  

Ein Gutachten über die Hafterstehungsfähigkeit wurde in antizipierter Beweiswürdigung (!) abgewiesen:

Die Vorinstanz erkennt sodann zutreffenderweise weder eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, noch des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Sie stützt sich in ihren Erwägungen auf Ziff. 3.2.1 der Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016 (SSED 17ter.0). Daraus leitet sie ab, ein Anspruch auf ein Gutachten bestehe nur dann, wenn sich die Verhältnisse nicht anders schlüssig erklären liessen. Vorliegend reichten die vom Beschwerdeführer eingereichten ärztlichen Berichte zusammen mit den Angaben des Beschwerdeführers zur Beurteilung aus. Diese liessen insgesamt auf eine deutlich positive Prognose schliessen, auch wenn die Rehabilitation langsamer als erwartet voranschreite und nicht abgeschlossen sei. Diesen Erwägungen gibt es nichts beizufügen. Die Vorinstanz durfte in antizipierter Beweiswürdigung davon ausgehen, ein Gutachten ändere nichts an ihrer Einschätzung betreffend Hafterstehungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang verletzt es auch das Willkürverbot nicht, wenn die Vorinstanz davon ausgeht, es wäre dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Mitwirkungspflicht nach Art. 20 Abs. 1 VRPG frei gestanden, aktuellere Unterlagen zu seinem Gesundheitszustand einzureichen, um ihre Einschätzung, die sich aus den vorhandenen ärztlichen Unterlagen ergibt, umzustossen (E. 2.4, Hervorhebungen durch mich).

Auf welchen Zeitpunkt das Bundesgericht (und die Vorinstanz) hier abstellten, ist nicht zu erkennen. Der vorgenommenen Interessenabwägung könnte man entnehmen, dass jedenfalls nicht der Zeitpunkt des (ursprünglich) angefochtenen Entscheids massgebend war. Die Vorinstanz führte nämlich

ins Feld, dass die zu vollziehende Strafe bereits über zwei Jahre rechtskräftig und damit die Grenze von sechs Monaten bis zum Vollzugsantritt nach Art. 23 Abs. 1 JVV/BE längstens überschritten sei. Weiter habe der Beschwerdeführer eine enorme kriminelle Energie an den Tag gelegt und sei mit der hohen Strafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt worden. Die öffentliche Sicherheit überwiege das private Interesse des Beschwerdeführers. Seinen gesundheitlichen Problemen könne im Strafvollzug begegnet werden (siehe angefochtener Beschluss S. 17). Darin ist mit Blick auf die genannten Grundsätze (siehe E. 2.2.2 hiervor) keine Bundesrechtsverletzung zu erblicken (E. 2.5, Hervorhebungen durch mich).  

*Enorme kriminelle Energie” ist ja wohl kein Kriterium, zumal die Hafterstehungsfähigkeit wie folgt definiert wird:

Bei der Beurteilung, ob eine verurteilte und zum Vollzug aufgebotene Person hafterstehungsfähig ist oder nicht, handelt es sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht um eine medizinische Diagnose, die einem Arzt obliegt, sondern um eine Rechtsfrage, die auf einer Rechtsgüterabwägung von medizinischen Faktoren einerseits und dem Straf-, Behandlungs- sowie Sicherheitsanspruch des Staats andererseits fusst (E. 2.2.2).

Das richtige Kriterium wäre somit eher die Gefahr, die im Zeitpunkt des Entscheids vom Beschwerdeführer ausging. Zu Leben oder Gesundheit im Strafvollzug gelten folgende Überlegungen:

Die blosse Möglichkeit, dass Leben oder Gesundheit der verurteilten Person gefährdet sein könnten, genügt nicht für einen Strafaufschub auf unbestimmte Zeit. Verlangt wird, dass mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, der Strafvollzug gefährde Leben oder Gesundheit der betroffenen Person. Selbst in diesem Fall ist eine Abwägung von öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten auch die Art und Schwere der begangenen Tat und die Dauer der Strafe zu berücksichtigen sind (BGE 108 Ia 69 E. 2b f.; Urteil 7B_932/2023 vom 10. Januar 2024 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Im Lichte dieser Rechtsprechung und mit Blick auf die grundsätzlich gute medizinische Grundversorgung in Schweizer Haftanstalten sowie der Möglichkeit der Verlegung einer inhaftierten Person in eine medizinische Bewachungsstation oder eine forensisch psychiatrische Klinik ist von Hafterstehungsunfähigkeit nur in schwerwiegenden Fällen auszugehen (MARC GRAF/BENJAMIN BRÄGGER, a.a.O., S. 309; siehe auch Urteile 7B_932/2023 vom 10. Januar 2024 E. 2.2.1, 6B_683/2022 vom 24. August 2022 E. 1.1.1, wonach die Hafterstehungsfähigkeit selbst bei erheblicher Selbstmordgefahr in der Regel zu bejahen ist) [E. 2.2.2]. 

Die Richter werden wissen, wie toll die medizinische Versorgung in “Schweizer Haftanstalten” ist. In einem bekannten Fall (ebenfalls im Kanton Bern) starb der Verurteilte unmittelbar nach Abweisung seiner Beschwerde. Aber das lag in dubio nicht am Strafvollzug. Darüber berichtete damals “Der Bund“.