Hard cases make bad law
Das Bundesgericht schmettert die Beschwerde eines Verurteilten ab, der so ziemlich jede denkbare Rüge vorgetragen hat (BGer 6B_208/2015 vom 24.08.2015). Bei der Begründung ist das Bundesgericht im einen oder anderen Punkt eher grosszügig mit dem offenbar nicht gerade vorbildlich geführten Vorverfahren und den daraus fliessenden Rechtsfolgen umgegangen. Insbesondere bei Belehrungspflichten hat es sich nicht mit den strengen (und ungeliebten) Vorgaben des EGMR auseinandergesetzt. Wahrscheinlich wurden diese aber auch nicht als verletzt gerügt.
Die spannendste Rechtsfrage des Rollenwechsels, lässt das Bundesgericht leider offen und weist darauf hin, dass das bundesgerichtliche Verfahren nicht der abstrakten Beantwortung von Rechtsfragen diene.
Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, ob die vom Beschwerdeführer in der Befragung als Auskunftsperson gemachten Angaben im gegen ihn als Beschuldigten geführten Verfahren verwertet werden können. Die Lehre äussert sich in Bezug auf die Auskunftsperson im Sinne von Art. 178 lit. d StPO nicht einheitlich. Zum einen wird vertreten, die früheren als Auskunftsperson gemachten Aussagen seien weiterhin verwertbar, zumal der Auskunftsperson ein Aussageverweigerungsrecht zugestanden habe (…). Ein anderer Teil der Literatur hält dafür, die Aussagen dürften nicht zu Lasten des später Beschuldigten verwertet werden, da die Auskunftsperson die dem Beschuldigten zustehenden Verteidigungsrechte bei der Einvernahme nicht habe wahrnehmen können (…).
Wie es sich im Einzelnen hiermit verhält, kann offenbleiben. Denn der Beschwerdeführer hat sich in der fraglichen Einvernahme nicht selbst belastet, sondern sich darauf beschränkt, jegliches Wissen um eine tätliche Auseinandersetzung in Abrede zu stellen. Damit bleibt die Frage der Verwertbarkeit der Aussage zum Lasten des Beschwerdeführers ohne praktische Auswirkungen, so dass der Beschwerdeführer in dieser Hinsicht nicht beschwert ist. Das bundesgerichtliche Verfahren dient nicht der abstrakten Beantwortung von Rechtsfragen. Bei bloss theoretischen Fragestellungen fehlt das Rechtsschutzinteresse, welches in Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG vorausgesetzt ist (vgl. BGE 124 IV 94 E. 1c; Urteil 6B_439/2010 vom 29. Juni 2010 E. 4). Im Übrigen wurde der Beschwerdeführer zu Beginn der Befragung über seine Verfahrensrechte belehrt. Dabei wurde er insbesondere darüber orientiert, dass er nicht zur Aussage verpflichtet ist und dass seine Aussagen in einem allfällig gegen ihn zu eröffnenden Strafverfahren als Beweismittel verwendet werden, falls sich im Verlaufe des Verfahrens auch gegen ihn ein konkreter Tatverdacht ergeben sollte (…). Das angefochtene Urteil verletzt in diesem Punkt kein Bundesrecht (E. 1.4).
Im zweiten zitierten Absatz erklärt das Bundesgericht, wieso sich die Frage, die sich gemäss dem ersten Absatz stellt, dann eben doch nicht stellt. Insgesamt hinterlässt der Fall den Eindruck, dass die Gerichte die materielle Wahrheit erkannt haben und sie sich nicht durch formale Argumente entreissen lassen wollten. Anders kann ich mir folgende Erwägung fast nicht erklären, auch sie sich auf Schmid stützen liesse:
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist nicht zu beanstanden, dass die Polizei ihn bei der Erstbefragung als Auskunftsperson befragte. Mit Ausnahme des passenden Signalements, das zur Anhaltung geführt hatte, lagen keine Hinweise auf eine mögliche Tatbeteiligung des Beschwerdeführers vor. Zwar wurden vom Schuhbändel seines rechten Schuhs ab einer blutähnlichen Anhaftung eine DNA-Probe erstellt (…). Doch wurden die Spuren vorerst nicht ausgewertet; erst am 16. November 2011 wurde der Ermittlungsauftrag gestellt, den sichergestellten Schuh dahingehend auszuwerten, ob es sich bei der blutähnlichen Anhaftung um das Blut des Opfers handelte (…). Es bestand mithin noch kein hinreichender Anfangsverdacht, so dass der Beschwerdeführer nicht als beschuldigte Person in Betracht kam und die Rollenzuweisung nicht von Anfang an fehlerhaft war (E. 1.4).
Zwangsmassnahmen gegen Personen, die als Beschuldigte nicht in Betracht kommen?
Hmmmm,
mein Blick in die StPO (Art. 197)hat folgendes zu Tage getragen:
Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn:
[…]
b. ein hinreichender Tatverdacht vorliegt;
[…]
Wenn kein hinreichender Anfangsverdacht vorliegt, wieso haben dann Zwangsmassnahmen entgegen dem Gesetzeswortlaut, welcher ein hinreichender Tatverdacht verlangt, angeordnet werden dürfen?
Wie KJ einmal mehr schön aufzeigt, kann dieser BGE aus verschiedenen Gründen hinterfragt werden. Die finale Frage: „Zwangsmassnahmen gegen Personen, die als Beschuldigte nicht in Betracht kommen?“ kann man mit Blick auf das Gesetz bejahen. Art. 197 Abs. 2 StPO lautet nämlich: „Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen.“ Zwangsmassnahmen gegen Dritte sind also gesetzlich vorgesehen.
Allerdings beantwortet das die Frage nach der richtigen Rollenzuweisung nicht.
Beim Rollentausch und der Befragung des späteren Beschuldigten als Auskunftsperson verkennt das Bundesgericht, dass die Frage der Verwertbarkeit einer Einvernahme nichts mit dem Inhalt der Aussagen zu tun hat, es also egal ist, ob darin ein Geständnis abgelegt wird oder nicht.
Tatsächlich ist das Bundesgericht in diesem Entscheid mit prozessualen Mängeln sehr grosszügig. Diverse Prozessrechtsverletzungen werden einfach hingenommen.