HIV-Infektion: Änderung der Rechtsprechung

Das Bundesgericht qualifizierte die HIV-Infektion in seiner bisherigen Rechtsprechung konstant als lebensgefährliche schwere Körperverletzung im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB). Davon weicht es in einem neuen Entscheid ab (BGE 6B_337/2012 vom 19.03.2013, Publikation in der AS vorgesehen).

An der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann insofern nicht festgehalten werden, als sich heute angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr sagen lässt, dass der Zustand der Infiziertheit mit dem HI-Virus schon als solcher generell lebensgefährlich im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB ist. Mit modernen antiretroviralen Kombinationstherapien (Highly Acitive Anti-Retroviral Therapy [HAART]) ist es möglich, den Ausbruch von AIDS hinauszuschieben, die Vermehrung der HI-Viren im Körper aufzuhalten, die Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze zu senken und die Lebenserwartung von HIV-Infizierten erheblich zu steigern, so dass bei früher Diagnose und guter Behandlung HIV-Infizierte fast so lange leben können wie nicht Infizierte (…). Damit fehlt es heute – unter der Voraussetzung medizinischer Behandlung – an der erheblichen Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs und folglich an der Lebensgefahr der HIV-Infektion im Sinne der Tatbestandsvariante von Art. 122 Abs. 1 StGB. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben teilweise bereits Eingang in die Rechtspraxis der Kantone gefunden. So sprach beispielsweise die Cour de Justice du Canton de Genève am 23. Februar 2009 einen HIV-positiven Mann, welcher ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte, u.a. vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung frei. Er sei aufgrund der Einnahme antiretroviraler Medikamente bei einer Viruslast von Null nicht mehr infektiös gewesen (vgl. zum Sachverhalt Urteil 6B_260/2009 vom 30. Juni 2009; siehe hierzu auch Zeitschrift Plädoyer, 2/2009, Rubrik Rechtsprechung, S. 65). [E. 3.4.2].

Nicht geklärt hat das Bundesgericht die Frage, ob eine schwere oder eine einfache Körperverletzung vorliege. Das wird die Vorinstanz abklären müssen, der das Bundesgericht folgendes aufträgt:

Wie diese möglichen Belastungen in ihrer Gesamtheit rechtlich zu beurteilen sind, kann das Bundesgericht vorliegend nicht entscheiden, da diese Frage weder Gegenstand der Anklage noch der vorinstanzlichen Urteile bildete. Dass der Beschwerdeführer die Problematik aufwirft und die Beschwerdegegnerin 1 in ihrer Vernehmlassung darauf eingeht (…), führt zu keinem andern Ergebnis. Die Vorinstanz wird deshalb – nach allfälliger Ergänzung der Anklageschrift und Gewährung der prozessualen Verfahrensrechte – darüber zu befinden haben, ob es sich um einen Verletzungserfolg im Sinne von Art. 122 Abs. 3 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB) oder um einen solchen gemäss Art. 123 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 1 StGB) handelt. Allenfalls wird sie, um sich in tatsächlicher Hinsicht ein besseres Bild über den aktuellen Forschungsstand, die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und deren Folgen machen zu können, ein Gutachten einholen und/oder weitere geeignete Abklärungen vornehmen müssen.

Die Vorinstanz wird weiter beurteilen, ob und inwiefern die möglichen psychischen Belastungen (beispielsweise bei Eröffnung der Diagnose) und die allenfalls negativen Auswirkungen der Therapien dem Täter objektiv und subjektiv zugerechnet werden können. (Diese Frage konnte das Bundesgericht in den früheren BGE offen lassen; vgl. BGE 125 IV 242 E. 2b/dd letzter Absatz). Bei der Beurteilung der Zurechenbarkeit wird sie prüfen, ob und inwiefern der Umstand eine Rolle spielt, dass der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner 2 im Jahr 2003 ansteckte und die damaligen Behandlungsmethoden (inkl. Medikamentenverträglichkeit, Risiken und Nebenwirkungen) mit den heutigen Methoden wohl nicht (vollständig) vergleichbar waren. Die Vorinstanz wird schliesslich die Strafzumessung unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Urteilszeitpunkt und die Bemessung der Genugtuung neu vornehmen müssen (E. 3.4.5).
Die vom Bundesgericht als möglich erachtete Ergänzung der Anklage nach einem Strafprozess über alle Instanzen könnte dazu führen, dass am Ende ein völlig anderer Fall vorliegt. Die Kosten werden am Beschuldigten hängen bleiben, der die allenfalls unvollständige Anklage mit Sicherheit nicht zu vertreten hat.