Höchstrichterliche Gehörsverletzung

Offenbar ist es möglich, dass in einem Haftverlängerungsverfahren der ursprüngliche Haftgrund geändert wird, ohne dass der Häftling jemals persönlich angehört wurde. Das ist zwar auch gemäss Bundesgericht eine Gehörsverletzung. Sie bleibt aber weitgehend folgenlos. Das Bundesgericht ergänzt einfach das angefochtene Urteilsdispositiv (BGer 1B_413/2021 vom 12.08.2021):

Im vorliegenden Fall hätte sich die Anordnung einer mündlichen Anhörung durch das ZMG sachlich aufgedrängt. Zum einen ist das ZMG gegenüber der ursprünglichen Haftanordnung vom bisherigen besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr abgewichen, indem es erstmals den Haftgrund der Wiederholungsgefahr bejaht hat. Zum anderen hat das ZMG bei der Prüfung dieses neuen Haftgrundes auch noch entscheiderhebliche neue (mutmassliche) Gewaltdelikte mitberücksichtigt, darunter mehrfachen qualifizierten Raub und einfache Körperverletzung. In Nachachtung des Gehörsanspruches und des Interesses an einer sorgfältigen richterlichen Haftprüfung war es hier von Bundesrechts wegen geboten, diese neue rechtliche und tatsächliche Konstellation – unter Einbezug der Sicht des Beschuldigten und der Untersuchungsbehörde – vertieft und in einem kontradiktorischen mündlichen Verfahren abzuklären (E. 3.3). 

Rechtsfolge:

Da gesetzliche Haftgründe erfüllt sind und die bisherige Haftdauer noch nicht übermässig erscheint (vgl. dazu oben, E. 2), führt die festgestellte Verletzung des rechtlichen Gehörs hier nicht zur Haftentlassung. Eine Rückweisung des Haftprüfungsverfahrens an das ZMG würde angesichts der bald anstehenden neuen periodischen Haftprüfung (Ablauf des Hafttitels am 4. September 2021) wenig Sinn machen und einem Prozessleerlauf gleichkommen. In der vorliegenden Konstellation ist die Verletzung von Verfahrensrechten im Urteilsdispositiv festzustellen und das ZMG anzuweisen, bei einer allfälligen nächsten Haftprüfung eine mündliche Anhörung durchzuführen (E. 3.4).

Neu im Dispositiv:

Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen teilweise gutgeheissen, und in Ziffer 1 des Beschluss-Dispositives vom 29. Juni 2021 des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, wird als zweitletzter Absatz Folgendes eingefügt:  

“Es wird festgestellt, dass das Zwangsmassnahmengericht des Bezirkes Zürich Bundesrecht verletzt hat, indem es vor seiner Haftverlängerung vom 4. Juni 2021 keine mündliche Haftverhandlung durchführte, und dass das Zwangsmassnahmengericht im Falle einer weiteren Haftprüfung eine mündliche Anhörung durchzuführen haben wird”. 

Hier kann man m.E. feststellen, dass der Entscheid des Bundesgerichts rechtsfehlerhaft ist.

Die blosse Ergänzung des Dispositivs kann die mündliche Anhörung, die das Bundesgericht ja selbst als erforderlich qualifiziert, nicht ersetzen. Die Anhörung ist nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung, welche die Prüfung der Haftgründe und damit den Entscheid selbst erst ermöglicht. Wenn das Bundesgericht in E. 3.4 ausdrücklich feststellt, die gesetzlichen Haftgründe seien erfüllt, macht es genau das, was es den Vorinstanzen vorwirft: es entscheidet über die Haftgründe, die mangels Anhörung gar nicht vertieft geprüft werden konnten. Das kontradiktorische mündliche Verfahren wird damit ad absurdum geführt. Die vom Bundesgericht thematisierte Frage nach dem praktischen Sinn einer Rückweisung ändert daran nichts.