Höchstrichterliche Rechtsprechung unbekannt
Das Obergericht des Kantons Aargau scheint die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 231 Abs. 2 StPO nicht bekannt zu sein. Es hat sich in einem Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht wie folgt vernehmen lassen:
Die Vorinstanz stellt sich darin auf den Standpunkt, Art. 231 Abs. 2 StPO sehe nicht vor, dass dem Inhaftierten vor dem Entscheid des Verfahrensleiters die Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden müsse; dies wäre aus zeitlichen Gründen auch nicht möglich, wenn die Frist von fünf Tagen seit Antragstellung unter Beachtung eines möglicherweise mehrfachen Replikrechts der Parteien eingehalten werden solle (E. 3.1).
Das Bundesgericht klärt die Vorinstanz unter Hinweis auf BGer 1B_191/2013 vom 12. Juni 2013 E. 2.2 (s. meinen früheren Beitrag) wie folgt auf:
Mit Urteil 1B_191/2013 vom 12. Juni 2013 E. 2.2 hat das Bundesgericht ausdrücklich entschieden, dass dem Beschuldigten im Verfahren nachArt. 231 Abs. 1 StPO vor der Anordnung der Sicherheitshaft Gelegenheit zu geben ist, sich zu äussern, ansonsten eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör vorliege. Gleiches hat in Anwendung von Art. 31 Abs. 4 i.V.m.Art. 29 Abs. 2 BV auch im Verfahren nachArt. 231 Abs. 2 StPO zu gelten (Marc Forster, in: Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Art. 231 N. 8; Markus Hug/Alexandra Scheidegger, in: Zürcher Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Art. 231 N. 17 und Art. 229 N. 6).
Da die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts gemäss Art. 231 Abs. 2 Satz 3 StPO innert fünf Tagen seit der Antragstellung über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Fortsetzung der Sicherheitshaft zu entscheiden hat, ist dem Beschuldigten und seinem Verteidiger eine kurze, nicht verlängerbare Frist (von bspw. 48 Stunden) anzusetzen, um zum Antrag der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen (vgl. Daniel Logos, in: Code de procédure pénale suisse, Commentaire Romand, 2011, Art. 231 N. 20); ein weiterer Schriftenwechsel ist nicht notwendig. Denkbar ist auch, dass die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts an Stelle der Aufforderung zur schriftlichen Stellungnahme vor Ablauf der 5-Tages-Frist eine nicht öffentliche mündliche Verhandlung anordnet und durchführt (Logos, a.a.O., Art. 231 N. 21; Forster, a.a.O., Art. 231 N. 8 und Art. 227 N. 4 Fn. 24).Im zu beurteilenden Fall hätte die Vorinstanz den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 16. April 2015 dem Beschwerdeführer mit einer kurzen, nicht verlängerbaren Frist zur Stellungnahme zustellen oder allenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen und alsdann bis zum 21. April 2015 über die Fortsetzung der Sicherheitshaft entscheiden müssen.Die Rüge der Gehörsverletzung erweist sich nach dem Gesagten als begründet (E. 3.2).
Ist es nicht so, dass es bis zu diesem Entscheid eben gerade keine Rechtsprechung zu Art. 231 Abs. 2 StPO, sondern nur einen in der amtlichen Sammlung nicht publizierten Entscheid zu Art. 231 Abs. 1 StPO betr. Anordnung der Sicherheitshaft durch die erste Instanz gab? Der Titel „höchstrichterliche Rechtsprechung unbekannt“ lässt eher auf ein Gerichtsbashing anstatt auf eine saubere Analyse des Entscheids schliessen.
Nur, aber immerhin. Über den Anwendungsbereich von 231 kann man durchaus diskutieren. Aber in diesem Fall kaum über BV und EMRK.
Was heisst das in Erw. 3.2: „Ein weiterer Schriftenwechsel ist nicht notwendig“? Bedeutet das, dass zwar dem Angeklagten, aber nicht der Staatsanwaltschaft das rechtliche Gehör gewährt werden muss, wenn der Angeklagte sich hat vernehmen lassen? Replikrecht und fair trial nur für den Angeklagten?
Der Gesetzgeber hat bei der StPO wohl nicht gute Arbeit geleistet. Bei vielen Bestimmungen kann man sich offensichtlich nicht auf den Wortlaut verlassen und muss immer noch irgendwas aus der BV oder der EMRK beachten. Konnte man das beim Erlass der StPO, die ja wirklich nicht sehr alt ist, nicht gleich berücksichtigen?
Der Beschuldigte ist als Mensch Träger der Grund- bzw. Menschenrechte und hat insofern Anrecht auf ein faires Verfahren. Der Staat bzw. der Staatsanwalt hat das faire Verfahren zu gewährleisten, kann sich aber selbst nicht auf das entsprechende Grund- bzw. Menschenrecht berufen – der Staat ist ja kein Mensch und der Staatsanwalt ist zwar ein Mensch, handelt aber im Strafprozess als Organ des Staates. Oder anders gesagt: der Mensch, sprich auch der beschuldigte Mensch ist vor dem Staat zu schützen, nicht umgekehrt.
Wahrscheinlich hat auch das Bundesgericht den Irrtum verstärkt, das dem Staatsanwalt der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne des entsprechenden Grundrechts zukommt, indem es der Staatsanwaltschaft Beschwerderechte einräumt, die eigentlich gar nicht vorgesehen sind.