Höchstrichterlicher Ausreisser?
Die beiden strafrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts haben heute ca. 40 Entscheide online gestellt, die teilweise bereits im Oktober gefällt wurden. Eine einziger Entscheid fiel (teilweise) zugunsten des Beschwerdeführers aus. Er ist aus zwei Gründen interessant ist (BGer 7B_179/2022 vom 24.10.2023).
Der erste Grund bezieht sich auf den Gehörsanspruch, aus dem das Bundesgericht unabhängig vom Konfrontationsanspruch des Beschuldigten eine richterliche Befragungspflicht der unmittelbaren “Tatzeugen” abzuleiten scheint, wenn der Tatvorwurf schwer genug ist:
Zwar lag es am Beschwerdeführer bzw. an dessen amtlichen Verteidiger, einen Antrag auf Anwesenheit (und damit auf Zuführung des Beschwerdeführers aus der damaligen Untersuchungshaft) an den jeweiligen Befragungen zu stellen (BGE 143 IV 397 E. 3.4.1 mit Hinweis), um den Konfrontationsanspruch bei jenen Einvernahmen wahrzunehmen, die durchgeführt wurden. Dies alleine bedeutet jedoch nicht, dass die Einvernahmen genügten. Vielmehr hätte es der Anspruch auf rechtliches Gehör aufgrund des schweren Tatvorwurfs ganz grundsätzlich verlangt, dass zumindest eine der kantonalen Instanzen den Beschwerdegegner und den unmittelbaren Tatzeugen D. befragt, zumal diese einen essentiellen Part im ganzen Geschehen spielten. Dies gilt unabhängig davon, dass der Beschwerdeführer bereits Gelegenheit hatte, seinen Konfrontationsanspruch wahrzunehmen, sich die Beteiligten bereits im Vorverfahren einlässlich äusserten und weitere Beweismittel vorlagen. Für das Absehen von einer erneuten Befragung genügt es auch nicht, aus dem Zeitablauf zwischen den Ermittlungen und der vorinstanzlichen Berufungsverhandlung auf das zu erwartende Beweisergebnis zu schliessen. Schliesslich liegt im Umstand, dass dem Verteidiger im Zeitpunkt der (delegierten) polizeilichen Befragungen nicht alle Akten zur Verfügung standen, kein Verzicht auf eine weitere Befragung. Dies entbindet die gerichtlichen Instanzen nicht davor, die vom Beschwerdeführer beantragten und gebotenen Befragungen durchzuführen. Die Rüge erweist sich als begründet (E. 2.4).
Ich will dem Bundesgericht hier im Ergebnis sicher nicht widersprechen, aber die Begründung der Befragungspflicht leuchtet mir nicht ein. Auch nicht verständlich ist, dass die Befragungspflicht mit der Schwere des Vorhalts zu tun haben soll. Die Wahrheit ist doch nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch bei leichten Vorhalten zu ermitteln.
Der zweite Grund berührt das Thema der Beweisverwertung nach Art. 141 Abs. 2 StPO, der die offene Missachtung von Gesetz und Verfassung rechtfertigt und damit den Anspruch der Schweiz als Rechtsstaat vernichtet. Hier verfällt das Bundesgericht in einen Zirkelschluss, indem es zuerst den konkreten Sachverhalt festgestellt haben und erst danach die Frage stellen will, ob die Beweismittel, mit denen der Sachverhalt festzustellen ist, überhaupt verwertbar sind. Einem weiteren Denkfehler unterliegt das Bundesgericht, wenn es sagt, die Ausführungen der Vorinstanz seien ungenügend, um eine vollständige Prüfung der Verwertbarkeit nach Art. 141 Abs. 2 StPO zu ermöglichen.
Weiter ist für die Überwachung des Innenraums der Bar (privater Bereich) und des Vorplatzes (teilweise öffentlicher Raum) eine Verwertbarkeit gestützt auf Art. 141 Abs. 2 StPO zu prüfen. Fest steht, dass der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung vor einer Bar mit einem Messer in den Bauch gestochen hat. Die Wunde wies eine Stichbreite von 2 bis 2,5 cm auf, die Tiefe betrug 7 bis 10 cm. Somit standen fraglos schwere Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zur Diskussion. Dem Beschwerdeführer ist nicht beizupflichten, wenn er geltend macht, die Frage der schweren Straftat im Sinne von Art. 141 StPO sei “ex ante” zu beurteilen. Vielmehr verlangt die Rechtsprechung eine Prüfung anhand des konkreten Sachverhalts, der sich ereignet hat (BGE 147 IV 16 E. 6, 9 E. 1.4.2). Indessen fehlen Angaben im angefochtenen Urteil, ob die Videoaufnahmen im Innen- und Aussenbereich der Bar unerlässlich waren, um den Sachverhalt zu erstellen. Immerhin erfolgten diese ohne Ton (…), weswegen die Vorinstanz ohnehin eine Würdigung der Aussagen vornehmen musste. Aus diesem Grund lässt sich auch keine Interessenabwägung vornehmen, welche die Frage der Erforderlichkeit der Videoüberwachung für die Aufklärung der angeklagten Straftat zu klären hat. Die Erwägungen der Vorinstanz sind ungenügend, um die korrekte Anwendung von Bundesrecht zu prüfen (Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG). Weder erlauben ihre Ausführungen eine vollständige Prüfung nach Art. 12 und Art. 13 aDSG noch nach Art. 141 Abs. 2 StPO. Die Beschwerde ist diesbezüglich gutzuheissen und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 3.5).
Es waren doch schwere Straftaten und die Videoaufnahmen waren doch unerlässlich. Was könnte denn noch gegen die Verwertbarkeit sprechen?
Vielleicht besinnt sich das Bundesgericht jetzt darauf, dass eine überbreite Anwendung von Art. 141 Absatz 2 StPO das Rechtsstaatprinzip aus den Angeln hebt. Erster Schritt rückwärts?