Im Ergebnis von vornherein unbegründet
Wie ist vorzugehen, wenn die Staatsanwaltschaft Aufzeichnungen trotz offensichtlich verspäteter Erklärung des Inhabers versiegelt und dann ein Entsiegelungsverfahren einleitet?
Das Bundesgericht beantwortet die Frage nicht, sondern erklärt, die Staatsanwaltschaft hätte den versprätet eingereichten Siegelungsantrag abweisen müssen (BGer 1B_144/2020 vom 22.04.2020):
Der rund drei Wochen nach der Sicherstellung und damit verspätet eingereichte Siegelungsantrag hätte dementsprechend ohne weiteres abgewiesen werden müssen. Die Staatsanwaltschaft hat das Mobiltelefon daher zu Unrecht versiegelt, was für den Fortgang des Verfahrens allerdings insoweit keine Rolle mehr spielt, als es vom Zwangsmassnahmengericht im angefochtenen Entscheid entsiegelt wurde. Die Beschwerde, mit welcher der Beschwerdeführer die Auswertung des Mobiltelefons für die Belange des Strafverfahrens verhindern und die umgehende Herausgabe an ihn erreichen möchte, ist daher im Ergebnis von vornherein unbegründet. Damit erübrigt es sich, auf die übrigen Rügen des Beschwerdeführers einzugehen (E. 2, Hervorhebungen durch mich).
Das mag ja im Ergebnis sogar richtig sein. Aber es bleibt eine prozessuale Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft den Siegelungsantrag eben nicht abgewiesen hat. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Entsiegelungsentscheid des ZMG geführt hat. Diesen hat das Bundesgericht nun gar nicht überprüft, die Beschwerde aber trotzdem abgewiesen, dies mit der “Begründung” die Beschwerde sei “im Ergebnis von vornherein unbegründet.” Das tönt nach einer Umschreibung für Rechtsverweigerung.
Ich würde nicht einmal ausschliessen, dass die Staatsanwaltschaft mit der Siegelung richtig gehandelt hat. Hätte sie die Siegelung verweigert, was sie gemäss Bundesgericht hätte tun müssen, hätten sich andere, gar nicht so einfach zu beantwortende Fragen gestellt, etwa diejnige nach dem Beschwerderecht. Ich sehe auch Parallelen zur Einsprache gegen einen Strafbefehl, deren Rechtzeitigkeit richtigerweise auch nicht die Staatsanwaltschaft beurteilen darf, sondern das Gericht. Die Siegelung ist nach dem Wortlaut von Art. 248 Abs. 1 StPO und Art. 50 Abs. Abs. 3 VStrR eben nicht als Antrag, sondern als blosse Erklärung konzipiert.
Ich war auch der Ansicht, dass die STA richtig gehandelt hat und es Sache des ZMG wäre, über die “Gültigkeit des Antrags” zu entscheiden.
Aufgrund einer fehlenden gesetzlichen Grundlage (beim Strafbefehl ist es ausdrücklich in Art. 356 StPO vermerkt) ist eine analoge Anwendung dieser Regelung bei der Siegelung wohl nicht möglich (auch wenn es m.E. auch dieselbe Situation ist..)? Anders kann ich mir das Urteil nicht erklären.
Dann müsste tatsächlich Beschwerde beim OG gegen die Verfügung der STA erhoben werden…
Im rahmen der rechtsanwendung von amtes wegen hat das bg den vorinstanzlichen entscheid mit einer anderen rechtlichen begründung geschützt. Der vorinstanzliche entscheid lautete, es darf dursucht werden, weil keine entsiegelungshindernisse. Das bg sagt, richtig, es darf durchsucht werden, entscheid war richtig. Die begründung ist einfach eine andere (siegelungsantrag zu spät). Deucht mich nachvollziehbar.
@iura novit curia: Das Ergebnis ist sicher richtig, ja. Aber prozessual ist so ziemlich alles falsch. Das mag im Einzelfall ja nicht tragisch sein, aber solche Entscheide schaffen einfach für künftige Fälle Unsicherheit.
Ich sehe nicht ganz, warum es falsch ist. Auch die unsicherheit sehe ich nicht. Die sta hat die grundsätzliche verfahrensleitung im vorverfahren, damit verbunden die verfügungskompetenz. Alle handlungen, die nicht ausdrücklich einer anderen behörde übertragen sind, hat sie, nötigenfalls mit verfügung, zu entscheiden und dies wiederum unterliegt der beschwerde. Beim strafbf. Entscheidet über die gültigkeit der einsprache ausdrücklich das erstinstanzliche gericht. Beim siegelungsantrag ist nichts dergleichen vorgesehen, weshalb die generelle zuständigkeit der sta greift. Zudem gibt es nun den bg entscheid. Bei verspätetem siegelungsantrag ergeht somit eine abweisende (oder nichteintretende) verfügung der sta. Es kann natürlich gut sein, dass eine sta in zukunft wieder gleich vorgeht wie im zitierten fall. nur dürfte dies zumindest dem beschuldigten kaum schaden und höchstens auf seiten des zmg für unsicherheit sorgen, falls überhaupt.
“Mit dieser klaren, in voller Kenntnis der Sach- und Rechtslage abgegebenen Willensäusserung…” (E2 Abs 3)
Dem Gericht war es selbst nicht ganz wohl dabei, sonst hätte es die beiden Adjektive nicht gebraucht. Die Siegelung ist Teil des Pivilegs, sich nicht selbst belasten zu müssen, eine Offenlegung von Handypasswörtern zum Knacken des Mobiltelefons kann dieses Privileg brechen.
Der zweite Teil der Mirandawarnung verlangt, dass ein Beschuldigter in Gewahrsam in unzweideutiger Weise davor gewarnt wird, dass seine Aussagen vor Gericht gegen ihn verwendet werden können und werden.
Ich sehe im ganzen Urteil nichts dergleichen. Insbesondere auch nicht im Satz, dass die Staatwanwältin ihm eröffnet habe, dass “sie sein Mobiltelefon auwerten lassen wolle” in E2 Abs 2.
Das ist nicht dasselbe.
Dass der Anwalt ihm die Siegelung zweimal erklärt habe, kann man auch anders deuten, nämlich dass dem Beschwerdeführer nach der Eröffnung durch die Staatsanwaltschaft und Erklärung durch seinen Anwalt immer noch nicht klar war, welche Rechte er hatte.
Zur Siegelungsrechtssprechung im Allgemeinen: Es gibt keine klare gesetzliche Frist, es gibt keine klare Aufklärungspflicht. Jede Staatsanwaltschaft arbeitet mit selbstgemachten Listen. Gerichte verlassen sich auf Richterrecht, das so unklar ist, dass – wie hier – auch Staatsanwälte und private Juristen nicht immer wissen, wie sie sich verhalten sollen. Fälle landen vor Gericht, Rückgaben an die Besitzer werden verzögert. Die helle prozessuale Linie fehlt, die alle Beteiligten im Strafprozess informieren würde.
“Der rund drei Wochen nach der Sicherstellung und damit verspätet eingereichte Siegelungsantrag…” (E2 Abs 3 ).
Das Einverständnis darf nicht vermutet werden. Es gibt keine gesetzliche Frist für ein Einverständnis. Bei 1B_516/2012 E2.3. Soweit das Gericht Richterrecht, aber kein Gesetz, für die Existenz einer ausnahmslosen Frist (“drei Wochen sind zuviel”, sh das Wort “damit” oben) zu Gunsten der Strafverfolgungsbehörde und zu Lasten des mit den Vorwürfen Konfrontierten geltend macht, urteilt es ausserhalb seiner Zuständigkeit (BV Art 190 1. Satzteil).
Nicht das Datum der Sicherstellung, sondern das Datum der Gelegenheit zur informierten Stellungnahme ist wichtig: “… das Einverständnis des Inhabers [zur Durchsuchung, PD] ist nicht zu vermuten, bis einem zuständigen Organ der juristischen Person, die als Inhaber und Besitzer der Papiere zu betrachten ist, Gelegenheit eingeräumt worden ist, sich im genannten Sinne zu äussern.” Bei 114 Ib 357 E4.
Wer keine Gelegenheit hatte, etwa, weil er davon nicht erfuhr oder wie hier nicht rechtmässig über die Folgen seines Siegelungsverzichts aufgeklärt wurde, kann also auch drei Wochen nach der Sicherstellung seines Handys noch die Siegelung verlangen.
@Pirmin Dorset: Kann in allen Punkten nur zustimmen. Die gegenwärtige Revision bringt ausser einem StPO-BEschwerderecht bis jetzt nichts Klärendes.