Im Zweifel fahrlässig
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei Strassenverkehrsdelikten von fahrlässiger Tatbegehung auszugehen, wenn die Anklage keine Elemente enthält, die auf Vorsatz schliessen lassen. In einem heute publizierten Entscheid wird das so zusammengefasst (BGer 7B_286/2022 vom 22.10.2024):
Bei einer Anklage wegen Verletzung der Verkehrsregeln ist daher von einer angeklagten fahrlässigen Tatbegehung auszugehen, es sei denn, die Anklage beinhalte einen darüber hinausgehenden Vorwurf eines vorsätzlichen Handelns. Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass die vorsätzliche und fahrlässige Verkehrsregelverletzung gleichermassen strafbar sind. Die für die Annahme von Fahrlässigkeit erforderliche Pflichtverletzung ergibt sich dabei, selbst wenn in der Anklage nicht explizit erwähnt, aus der im Strassenverkehr allgemein geltenden Pflicht zur Aufmerksamkeit (vgl. Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV) und der als bekannt vorausgesetzten Kenntnis der Verkehrsregeln (vgl. Art. 14 Abs. 1 und 3 lit. a SVG). Schildert die Anklage kein bewusstes Verhalten, ist daher von einer fahrlässigen Verletzung der Verkehrsregeln auszugehen, dies insbesondere bei Verkehrsregelverletzungen, die unter den angeklagten Umständen typischerweise durch fehlende Aufmerksamkeit im Strassenverkehr begangen werden (Urteil 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 E. 1.5.2 mit Hinweisen) [E. 2.2.1, Hervorhebungen durch mich].
Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft anlässlich der Berufungsverhandlung dem Obergericht AG eine ergänzte Anklageschrift vorgelegt, die auch die Fahrlässigkeit abdeckt. Das Gericht liess die mit der Ergänzung verbundenen Fragen aber offen und entschied insbesondere nicht über die (in dieser Art offensichtlich unzulässige) Anklageergänzung. Es verurteilte wegen fahrlässiger Tatbegehung. Das Bundesgericht kassiert das Urteil des Obergerichts:
2.3. Hinzu kommt Folgendes: Im Rahmen der Vorfragen legte die Beschwerdegegnerin der Vorinstanz anlässlich der Berufungsverhandlung eine ergänzte Anklageschrift vor. Darin wird dem Beschwerdeführer auch eine fahrlässige grobe Verletzung der Verkehrsregeln zur Last gelegt (Akten Vorinstanz pag. 87). Während der gesamten Berufungsverhandlung äusserte sich die Vorinstanz jedoch nicht dazu, ob und wie sie diese Ergänzung zu würdigen gedenkt (vgl. Protokoll der Berufungsverhandlung, Akten Vorinstanz pag. 28 ff., insbesondere pag. 29 und 39). Damit hat die Vorinstanz, wie vom Beschwerdeführer zu Recht vorgebracht, gegen Art. 405 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 339 Abs. 3 StPO verstossen. Diese Bestimmung verlangt, dass über Vorfragen – vorliegend diejenigen der massgebenden Anklage (vgl. Art. 339 Abs. 2 lit. a StPO) – nach Gewährung des rechtlichen Gehörs unverzüglich entschieden wird. Gleichzeitig darf das Gericht eine geänderte oder erweiterte Anklage seinem Urteil nur zu Grunde legen, wenn die Parteirechte der beschuldigten Person und der Privatklägerschaft gewahrt worden sind. Es unterbricht dafür nötigenfalls die Hauptverhandlung (Art. 333 Abs. 4 StPO). Die Vorinstanz blieb den Parteien bis zum Schluss der Berufungsverhandlung einen Entscheid darüber schuldig, ob sie die von der Beschwerdegegnerin ergänzte Anklageschrift akzeptiert. Folglich war für den Beschuldigten in Missachtung seiner Parteirechte unklar, ob er sich gegen den Fahrlässigkeitsvorwurf zu verteidigen hatte oder nicht. Selbst im angefochtenen Entscheid äussert sich die Vorinstanz im Übrigen nicht zur ergänzten Anklageschrift.
2.4. Der Schuldspruch wegen fahrlässig begangener mehrfacher grober Verletzung der Verkehrsregeln verletzt aus den genannten Gründen den Anklagegrundsatz und damit Bundesrecht. Dies führt vorliegend jedoch nicht ohne Weiteres zu einem Freispruch des Beschwerdeführers.
2.4.1. Nach Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Die Bestimmung gelangt zur Anwendung, wenn der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen (Umqualifizierung) – oder, bei echter Konkurrenz, einen zusätzlichen – Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht (BGE 148 IV 124 E. 2.6.2; 147 IV 167 E. 1.4 mit Hinweis). Das ist typischerweise dann der Fall, wenn der angeklagte Sachverhalt aus Sicht des Gerichts einen anderen rechtlichen Tatbestand erfüllen könnte, dessen Tatbestandsvoraussetzungen allerdings in der Anklage nicht (vollständig) umschrieben sind (BGE 149 IV 42 E. 3.4.1). Ein Beispiel ist die Konstellation, in der neben der vorsätzlichen Begehung auch die fahrlässige Handlung unter Strafe steht und das Gericht allenfalls eine andere rechtliche Würdigung des subjektiven Tatbestands vornehmen möchte (JONAS ACHERMANN, in: Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 37 zu Art. 333 StPO). Mit Art. 333 Abs. 1 StPO wird verhindert, dass schwere Straftaten mit einem Freispruch enden, nur weil sich bei der Beweisaufnahme vor Gericht eine mögliche neue Tatvariante ergibt (BGE 149 IV 42 E. 3.4.1 mit Hinweisen).
Eine solche Änderung der Anklage ist in Anwendung von Art. 379 StPO im Rahmen der Anträge der Parteien und soweit mit dem Verbot der “reformatio in peius” vereinbar (vgl. Art. 391 Abs. 2 StPO) auch im Berufungsverfahren noch zulässig (BGE 148 IV 124 E. 2.6.3 mit Hinweisen; 147 IV 167 E. 1.4). Unter den gleichen Voraussetzungen kann eine Anklageänderung auch noch nach einer Rückweisung durch das Bundesgericht erfolgen (BGE 148 IV 124 E. 2.6.3 mit Hinweisen).
2.4.2. In diesem Sinne ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese den Tatvorwurf gemäss geänderter Anklageschrift erneut prüfen kann. Hierzu wird dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör zu gewähren sein.
Das nennt sich dann ein faires Verfahren, wenn da Unparteische Gericht der Anklage mitteilt wie es zu Verurteilen gedenkt und doch bitte entsprechend Anklagt, warum wird der Verteidigung nicht eröffnung unter welcher Argumentation es begründete Zweifel haben müsste?!? Absolute Waffengleichheit.
Am Ergebnis wird sich ja am Schluss dann doch wieder nichts ändern, da das BGE die Fahrlässigkeitsverteilung auch wenn nicht angeklagt doch erfasst ist, womit die Vorinstant die erganzte Anklage nicht berücksichtigen muss und nun im Sinne der Rückweisung entscheiden kann.
So laufen Verfahren meistens ab, in der Hauptsache hilft das Gericht es bitzeli, und heisst dann aus Formalen Gründen gut, was niemanden im Ergebnis gar nichts bringt ausser das die Gericht sich mit Arbeit zuscheissen
Im Ergebnis zitiert das Bundesgericht seine “Praxis” bezüglich der Zulässigkeit von Anklageänderungen nach Art. 333 StPO und gibt der Vorinstanz die Gelegenheit, die Angelegenheit durch eine “saubere Anklageänderung” nochmals neu zu beurteilen. Liest man die bei der Wiedergabe der Praxis zitierten Urteile jedoch nicht bloss selektiv bezüglich den zitierten Erwägungen, sondern im Ganzen, müsste man eigentlich eher zu Schluss kommen, dass eine Neubeurteilung durch das Berufungsgericht nach “bundesgerichtlicher Praxis” nicht mehr zulässig sein dürfte:
– BGE 149 IV 42, Regeste: “Die Rückweisung an die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO setzt gemäss dem klaren Gesetzeswortlaut und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung voraus, dass der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen andern als den angeklagten Straftatbestand erfüllen könnte. Die Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn die Anklage innerhalb des angeklagten Straftatbestandes geändert werden soll (E. 3).”
– BGE 148 IV 124, Regeste: “Eine Anklageergänzung in Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO ist bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern nur in engen Grenzen möglich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Freisprüche zu verhindern. Hingegen darf die Privatklägerschaft ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinne einer qualifizierten Tatbegehung bzw. einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen (E. 2.6.7).”
– BGer-Urteil 6B_1216/2020 vom 11. April 2022 (welches in BGE 149 IV 42 referenziert wird und auf BGE 148 IV 124 Bezug nimmt): Nach einem Rückweisungsurteil des Bundesgerichts könne die Anklage aufgrund der Bindungswirkung des Rückweisungsurteils grundsätzlich nicht mehr geändert werden, ausser die Privatklägerschaft habe im vorinstanzlichen Verfahren erfolglos einen entsprechenden Antrag gestellt.
In meinen Augen müsste das Bundesgericht mal überdenken, nach welchen Kriterien es ausgewählte Urteile durch Aufnahme in die amtliche Sammlung zu “Grundsatzurteilen” erhebt. Wenn der Grundgedanken solcher Grundsatzurteile und deren Regesten dann in nachfolgenden Urteilen schlicht ignoriert wird, führt dies dazu, dass niemand weiss, was Sache ist und alle einfach irgendwie irgendwas machen. Dies ist der aktuelle Zustand bezüglich der Anklageänderung, wo das Bundesgericht die gesetzlich vage geregelte Rechtslage mit einer unübersichtlichen, widersprüchlichen Rechtsprechung bislang nicht konturiert hat. (Ähnliches scheint bezüglich Teilnahmerechten der Fall zu sein). Das Ergebnis: Die Verfahren dauern noch länger, nehmen eine oder mehrere Zusatzschleifen und landen wiederholt beim Bundesgericht, weil sie mangels klarer “höchstgerichtlicher Konturen” nicht von Anfang an “richtig” aufgegleist werden.
@J. Achermann: Herzlichen Dank für diesen sehr fundierten und treffenden Kommentar. Für Verteidiger kann inkohärente Rechtsprechung mitunter eine Chance sein. Für Strafbehörden. welche “allein dem Recht” verpflichtet sind (Art. 4 StPO), ist sie vermutlich eher frustrierend.
Und wo genau verorten Sie jetzt den Widerspruch zwischen dem diskutierten Urteil und den von Ihnen zitierten Grundsatzentscheiden?