Immutabilitätsprinzip aufgehoben
Wenn ich einen heute publizierten Entscheid des Bundesgerichts richtig lese, gilt das Immutabilitätsprinzip nicht mehr (BGer 6B_904/2015 vom 27.05.2016).
Anlässlich der Hauptverhandlung wurde der zur Anklage gebrachte Sachverhalt beweismässig widerlegt. Anstatt nun aber freizusprechen, hat das Sachgericht – nach Parteivortrag und letztem Wort des Beschuldigten – das Verfahren sistiert und die Anklage zur Verbesserung zurückgewiesen. In einer zweiten Hauptverhandlung wurde der Beschuldigte dann im Sinne der „bereinigten Anklage“ verurteilt.
Das soll nach Bundesgericht zulässig sein, was nur möglich ist, wenn man nicht zwischen Sachverhalt und Recht trennt und darüber hinwegsieht, dass Art. 333 Abs. 1 StPO eine Veränderung des Sachverhalts gerade nicht vorsieht.
Nach Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen andern Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Die dem Gericht hier eingeräumte Kompetenz geht weiter als diejenige in Art. 329 Abs. 2 StPO und ermöglicht eine Anklageänderung (YVONA GRIESSER, a.a.O., N. 1 zu Art. 333 StPO). Eine Änderung der Anklage im Sinne von Art. 333 Abs. 1 StPO ist in Anwendung von Art. 379 StPO auch noch an der Berufungsverhandlung möglich (…) [E. 1.4.1, Hervorhebungen durch mich].
Damit könnte man ja noch leben. Die anschliessende Erwägung kann ich aber nicht mehr nachvollziehen:
Nach den Feststellungen der Vorinstanz stimmte der Sachverhalt in der Anklageschrift – insbesondere hinsichtlich der Stelle, an welcher der Beschwerdeführer das Überholmanöver begonnen haben soll – nicht mit dem Beweisergebnis überein. Als die erste Instanz dies feststellte, sistierte sie das Verfahren und wies die Anklage zur Ergänzung bzw. Berichtigung an die Beschwerdegegnerin zurück. Mit dem Beschwerdeführer ist präzisierend festzuhalten, dass dies erst nach dem Abschluss der Parteiverhandlungen, mithin nach seinem letzten Wort anlässlich der Hauptverhandlung, aber vor der Urteilsfällung und -eröffnung, erfolgte (…). Nachdem die Beschwerdegegnerin eine bereinigte Anklageschrift einreichte, fand eine zweite Hauptverhandlung statt (…). Dieses Vorgehen ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers selbst dann nicht bundesrechts- oder verfassungswidrig, wenn an der ersten Hauptverhandlung keine neuen Beweise erhoben wurden. Die Beschwerde ist auch diesem Punkt abzuweisen. Schliesslich wendet der Beschwerdeführer zu Recht nicht ein, seine Parteirechte seien nicht gewahrt worden (E. 1.4.2).
Das ist keine Begründung, sondern eine Feststellung. Wieso die Feststellung richtig sein soll, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Wahrscheinlich war es ganz einfach der Widerwille, einen Straftäter freisprechen zu müssen, der dazu geführt hat, strafprozessuale Grundsätze über Bord zu werfen.
Tatsächlich fehlt es hier an einer Begründung. Das Bundesgericht geht aber offenbar von einer Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO aus. Diese Bestimmung erlaubt zwar eine Veränderung des Sachverhalts, gilt aber nur für die hier nicht vorliegende Konstellation, wo eine Verurteilung wegen eines anderen Tatbestands infrage kommt. Mithin ist dieser Entscheid leider und unverständlicherweise prozessrechtswidrig. Damit wird das Immutabilitätsprinzip ausgehöhlt.
Die vom Gericht angestrebte „Anklageergänzung/Berichtigung“ wäre nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts m.E. gar nicht nötig gewesen: „Ergibt das gerichtliche Beweisverfahren, dass sich das Tatgeschehen in einzelnen Punkten anders abgespielt hat, als im Anklagesachverhalt dargestellt, so hindert der Anklagegrundsatz das Gericht nicht, die beschuldigte Person aufgrund des abgeänderten Sachverhaltes zu verurteilen, sofern die Änderungen für die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts nicht ausschlaggebende Punkte betreffen und die beschuldigte Person Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen.“ (Urteil 6B_1180/2015 E. 1.3.1. m.w.H.).
An der Hauptverhandlung änderte sich das Beweisergebnis (soweit ich verstanden habe) im Wesentlichen nur bezüglich des Ortes, wo das Überholmanöver begonnen wurde. Am eigentlichen Vorwurf (gefährliches Überholen über Sicherheitslinie) und dem Tatbestand änderte sich nichts, oder?
So sehe ich das auch. Aber auch 6B_1180/2015 ist kritisch.
Ihren beiden Auffassungen ist unbedingt zuzustimmen. Mit Blick auf den Detaillierungsgrad gilt ja zu beachten, dass Ungenauigkeiten solange nicht von entscheidender Bedeutung sind, als für die beschuldigte Person keine Zweifel darüber bestehen, welches Verhalten ihr angelastet wird (so 6B_1180/2015, E. 1.3.1.).
Das vorliegende Bundesgerichtsurteil schafft m.E. mehr Unklarheit als Klarheit. So ist mir völlig unklar, weshalb die dem Gericht mittels Art. 333 Abs. 1 StPO eingeräumte Kompetenz weiter gehen soll als diejenige in Art. 329 Abs. 2 StPO.
Es erscheint auch mir im Übrigen äusserst fragwürdig, dass das Bundesgericht ohne jegliche Begründung eine derart weitreichende Auslegung von Art. 333 Abs. 1 StPO vornimmt. Nach dem Wortlaut gehend bestünde die Möglichkeit der Anklageänderung nach meinem Verständnis nämlich nur dann, wenn der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte. Dass in diesem Fall (und nur in diesem Fall) auch eine Änderung des Sachverhalts zulässig sein soll, entspricht offenbar dem Wille des Gesetzgebers (und lässt sich auch sinnvoll nachvollziehen). Derartiges ergibt sich aus der Botschaft zur StPO (https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2006/1085.pdf, S. 1280 unten). Eine eingehende Auseinandersetzung damit dürfte vom höchsten Gericht eigentlich erwartet werden.
@HuK: Im Gegensatz zu Art. 329 Abs. 2 enthält Art. 333 Abs. 1 die Kompetenz zur Ä n d e r u n g der Anklage. Deshalb handelt es sich hier um eine erweiterte Kompetenz, welche aber eben nur für die Konstellation gilt, wo eine Verurteilung wegen eines anderen Tatbestands infrage kommt.