(Im)mutabliltätsprinzip

Das Bundesgericht kassiert ein Urteil, mit dem eine nachmalige Beschwerdeführerin wegen Veruntreuung schuldig gesprochen wurde (BGer 6B_389/2010 vom 27.09.2010) . Prozessual wirft der Entscheid des Bundesgerichts Fragen zum Anklageprinzip auf. Die Anklageschrift war von der Vorinstanz zur Abänderung zurückgewiesen worden. Bereits dies erscheint mir als fragwürdig, zumal die Anklage den Prozessgegenstand für das Hauptverfahren festlegt (Immutabilitätsprinzip). Dieser kann m.E. nicht im Rechtsmittelverfahren geändert werden. Dies war hier aber gar nicht mehr die Frage, denn die Vorinstanz verurteilte die Beschwerdeführerin gestützt auf die geänderte Anklage.

Die Beschwerdeführerin rügte die Verletzung des Anklageprinzips, allerdings nicht wegen der Abänderung. Sie machte geltend, die

Anklageschrift müsse sich zwingend dazu äussern, auf welchen rechtlichen Grundlagen das Anvertrautsein beruhe und wozu sie dem Treugeber verpflichtet gewesen wäre.

Das Bundesgericht verwirft die Rüge. Es stellt zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin keine Verletzung kantonalen Rechts geltend macht. Die zu prüfende Anklage sei zwar nicht besonders überzeugend, aber für eine wirksame Verteidigung ausreichend:

Sie muss die Tatsachen nachweisen, aus denen sich ergeben soll, dass die Vermögenswerte “ihr anvertraut” sind, nicht aber “zivilrechtliche Verhältnisse” als solche. Dass die Anklage nicht besonders überzeugend ausgefallen ist, beweist die vorinstanzliche Rückweisung der Anklageschrift. Jedenfalls aufgrund des zusätzlichen vorinstanzlichen Verfahrens (oben Bst. B) musste der Beschwerdeführerin aber klar sein, was ihr vorgeworfen wird. Damit waren die Vorwürfe hinreichend konkretisiert (E. 1.3.3).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde dennoch gut, allerdings wegen willkürlicher Feststellung des Sachverhalts bzw. willkürlicher Beweiswürdigung. Auf dieser Basis verwirft das Bundesgericht das “Anvertrautsein”:

Nichts deutet ernsthaft auf die Begründung eines wie auch immer spezifizierten treuhänderischen Verhältnisses hin. Ein solches war offenkundig von den Beteiligten gar nicht gewollt (Art. 18 Abs. 1 OR) und lässt sich aufgrund der Aktenlage auch nicht durch Auslegung ermitteln (E. 3).

Das Bundesgericht schliesst aber nicht wie beantragt auf Freispruch, sondern weist an die Vorinstanz zurück, der sie folgende Anleitung mitgibt:

[Die Vorinstanz] hat zu prüfen, ob die Anklage auch eine Verurteilung wegen (mehrfachen) Betrugs erfasst. Gegebenenfalls hat sie nach Massgabe des kantonalen Rechts eine Ergänzung anzuordnen (BGE 124 IV 145), wie das bereits im Appellationsverfahren erfolgt war (…). Sie wird jedenfalls das Verschlechterungsverbot hinsichtlich der Sanktion zu beachten haben (E. 4).

Will die Vorinstanz nicht erneut mit einer Rüge zum Anklageprinzip konfrontiert werden (zum Beispiel bezüglich des Tatbestandselements der Arglist), wird sie wohl die Anklage zur neuerlichen Abänderung zurückweisen müssen. Am Ende wird dann wohl einfach so lange an der Anklage herumgewerkelt bis die Beschwerdeführerin wegen mehrfachen Betrugs verurteilt werden kann. Ich habe ja grundsätzlich schon Verständnis dafür, dass ein Gericht nicht gerne freispricht, wenn es zur Überzeugung gelangt, eine Beschuldigte habe sich zwar nicht im Sinn der Anklage, aber eben doch strafbar gemacht. Aber darf das formelle Recht wirklich unbegrenzt strapaziert werden?