In dubio pro reo unvermeidbar
Heute ist ein Urteil des Bundesgerichts im Internet publiziert worden, das der Vorinstanz (Obergericht des Kantons Aargau) die Verletzung von “in dubio pro reo” vorwirft (BGer 6B_409/2015 vom 01.06.2015). Die Vorinstanz hatte einer Automobilistin vorgeworfen, nachts einen dunkel gekleideten Mann auf einem Fussgängerstreifen fahrlässig getötet zu haben. Sie habe sich dem Fussgängerstreifen mit 40 km/h genähert, obwohl eine Kollision mit dem Opfer bei einer Geschwindigkeit von 21.5 km/h vermieden worden wäre.
Es erwies sich insbesondere als unzulässig, die Geschwindigkeit von 40 km/h und damit eine Verkehrsregelverletzung allein aufgrund des verkehrswidrigen Verhaltens des Opfers als zu hoch zu qualifizieren:
Die Vorinstanz begründet die Fahrlässigkeit in Bezug auf den Tötungserfolg im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführerin zu schnell auf den Streifen zugefahren sei. Ihres Erachtens wäre Fahrlässigkeit nur zu verneinen, wenn die Beschwerdeführerin mit einer Geschwindigkeit von höchstens 21,5 km/h auf den Streifen zugefahren wäre. Die Vorinstanz begründet dies damit, dass bei einer Geschwindigkeit von höchstens 21,5 km/h eine Kollision mit dem Opfer vermieden worden wäre. Eine derart niedrige Geschwindigkeit war indessen zur Vermeidung einer Kollision deshalb erforderlich, weil das Opfer – wovon im vorliegenden Strafverfahren “in dubio reo” auszugehen ist – den Fussgängerstreifen lediglich 0,8 Sekunden vor dem Kollisionszeitpunkt und bloss 9,1 Meter vor dem herannahenden Personenwagen betrat. Durch dieses Verhalten missachtete das Opfer die ihm als Fussgänger am Fussgängerstreifen gemäss Art. 49 Abs. 2 Satz 2 SVG und Art. 47 Abs. 2 Satz 2 VRV obliegenden Pflichten. Die Vorinstanz begründet somit ihre Auffassung, die Geschwindigkeit von 40 km/h sei zu hoch gewesen, im Ergebnis einzig mit dem Verhalten des Opfers, welches in Missachtung seiner Pflichten den Streifen überraschend betrat. Das ist unzulässig. Inwiefern die Geschwindigkeit von 40 km/h aus andern Gründen verkehrsregelwidrig war beziehungsweise den Vorwurf der Fahrlässigkeit in Bezug auf den eingetretenen Tötungserfolg zu begründen vermag, legt die Vorinstanz nicht dar und ist nicht ersichtlich.
Die Geschwindigkeit von 40 km/h wäre somit nur dann zu hoch gewesen, wenn im Sinne von Art. 26 Abs. 2 SVG konkrete Anzeichen dafür bestanden hätten, dass ein Fussgänger überraschend den Streifen betreten würde. Solche Anzeichen werden im angefochtenen Urteil nicht genannt und sind nicht ersichtlich. Insbesondere begründet der Umstand, dass der vom Opfer benützte Weg, welcher in den Fussgängerstreifen mündet, im Dunkeln lag, kein besonderes Anzeichen dafür, dass ein von dort her kommender, nicht sichtbarer Fussgänger den Streifen in Missachtung der Regeln überraschend betreten würde (E. 2.3).
aufgrund der “in dubio pro reo” anzunehmenden Umstände [sei] davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin sich nicht verkehrsregelwidrig verhielt und ihr daher keine Fahrlässigkeit in Bezug auf den eingetretenen Tötungserfolg vorgeworfen werden kann.