“In dubio pro reo” verletzt

Das OGer BE hat geschafft, was auf den ersten Blick eigentlich gar nicht möglich ist. Es hat einen Beschuldigten unter falscher Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” nicht etwa verurteilt, sondern freigesprochen. Entsprechend hebt das Bundesgericht das Urteil auf Beschwerde der Privatkläger auf (BGer 6B_160/2022 vom 05.10.2022, Fünferbesetzung), obwohl “in dubio pro reo” ja eigentlich nicht die Privatkläger, sondern allein die Beschuldigten schützt.

Das Bundesgericht begründet seinen Entscheid wie folgt:

Die Vorinstanz wendet den In-dubio-Grundsatz nicht erst nach der Würdigung sämtlicher relevanter Beweismittel an. Vielmehr hält sie in ihrer Beweiswürdigung fest, in Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” sei davon auszugehen, dass der Pistenverlauf und der Pistenrand auch für die Verunfallte erkennbar gewesen seien (…). Ebenso müsse “in dubio pro reo” angenommen werden, dass nach dem Unfall zusätzliche Spuren durch weitere Schneesportler, Zuschauer, Gaffer, Rettungskräfte oder andere Personen auf dem fraglichen Pistenabschnitt entstanden seien und der auf der Fotodokumentation abgebildete Pistenrand nicht demjenigen zum Unfallzeitpunkt entspreche (…). Sodann sei unter Berücksichtigung des Grundsatzes “in dubio pro reo” davon auszugehen, dass die Verunfallte (nach dem bewussten Verlassen der Skipiste) die Kontrolle über ihre Skier verloren habe und deshalb statt dem Nebenweglein entlang zurück auf die Piste rechts von den Markierungsstangen in den Graben gefahren sei (…). Der Unfall hätte aufgrund des Kontrollverlusts nicht verhindert werden können, was auch für die Anbringung eines Markierungsseils – jedenfalls “in dubio pro reo” – gelte, da Markierungsseile nicht zum Auffangen oder Rückhalten der Skifahrer geeignet seien, sondern auf eine Gefahr hinweisen würden (…). 

Der In-dubio-Grundsatz hätte gemäss konstanter Lehre und Rechtsprechung aber erst nach erfolgter Gesamtwürdigung, falls relevante Zweifel verblieben wären, herangezogen werden dürfen. Die mehrfache Würdigung von Beweismitteln zu den einzelnen Sachverhaltsteilen zugunsten des Beschwerdegegners 2 unter Berufung auf den In-dubio-Grundsatz ergibt ein zugunsten der beschuldigten Person verzerrtes Bild und widerspricht der Rechtsprechung zur Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo”. Eine solche Beweiswürdigung ist bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich (E. 2.4. Hervorhebungen durch mich). 

Das Urteil dürfte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass das Obergericht nun anders entscheiden kann. Diesmal wird es einfach erst nach erfolgter Gesamtwürdigung an der Schuld zweifeln müssen.