Individual- oder Repräsentationstheorie?
In einem neuen Grundsatzentscheid folgt das Bundesgericht bei der Auslegung von Art. 224 ff. StGB der herrschenden Lehre, welche die Repräsentationstheorie vertritt (BGE 6B_795/2021 vom 27.04.2022, Publikation in der AS vorgesehen).
Zu beurteilen war die Sprengung eines Geschwindigkeitsmessgeräts mittels Feuerwerksrakete. Die Verurteilung des Täters wegen qualifizierter Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 3 StGB) sowie der Freispruch von der Anklage der Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht (Art. 224 Abs. 1 StGB) werden damit bestätigt.
Der Tatbestand der Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht gemäss Art. 224 Abs. 1 StGB ist weit gefasst. Zu seiner Erfüllung genügt bereits die blosse Gefährdung von fremdem Eigentum. Dem steht eine erhebliche Strafdrohung von Freiheitsstrafe von einem Jahr bis 20 Jahre gegenüber (Art. 224 Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 40 Abs. 2 StGB). Die Verursachung einer Explosion durch Sprengstoffe ist nicht zwingend gemeingefährlich. Vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Es spielt eine erhebliche Rolle, wo der Täter wann eine Explosion welchen Ausmasses verursacht. Der Tatbestand muss daher wenigstens vom Gefährdungserfolg her sachgemäss begrenzt werden. Daher sind in den Tatbestand nur Handlungen einzubeziehen, die von vornherein eine Mehrzahl von Rechtsgütern gefährden, welche die Allgemeinheit repräsentieren. Dass tatsächlich nur eine Person oder fremde Sache in Gefahr gerät, genügt dann zwar, aber ausschliesslich unter der Voraussetzung, dass sie nicht im Voraus individuell bestimmt, sondern vom Zufall ausgewählt ist (Stratenwerth/Bommer, a.a.O., § 29 N. 17 mit Hinweis auf N. 5). Die besondere Verwerflichkeit des gemeingefährlichen Delikts wird erst dadurch begründet, dass die Opfer unbeteiligte Drittpersonen sind, die nicht individuell ausgewählt wurden und für den Täter als Repräsentanten der Allgemeinheit erscheinen. Demnach muss die Unbestimmtheit nicht in der Zahl der betroffenen Rechtsgüter liegen, sondern darin, welche Rechtsgüter überhaupt in Gefahr geraten. Um die Allgemeinheit zu repräsentieren, müssen die Rechtsgüter vom Zufall ausgewählt sein, selbst wenn im Augenblick des Angriffs bereits feststeht, wen es treffen kann (Stratenwerth/Bommer, a.a.O., vor § 28 N. 3-6) [E. 3, Hervorhebungen durch mich].