Je geringer der Deliktsbetrag je arglistiger
Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung einer Beschwerdeführerin wegen geringfügigen Betrugs, die ein Unternehmen mit der Ausführung von Elektroarbeiten im Wert von ca. CHF 200.00 beauftragt hatte (BGer 6B_447/2021 vom 16.07.2021). Dass sie die Rechnung – verspätet – bezahlt hat, schützte sie nicht. Sie machte folgendes geltend:
Ein fehlender Zahlungswille oder eine fehlende Zahlungsmöglichkeit bei Vertragsschluss seien nicht erstellt, zumal sie die Rechnung, wenn auch verspätet, bezahlt habe. Aufgrund der Opfermitverantwortung und mangelnder Pflicht der Beschwerdeführerin, den Vertragspartner über ihre finanzielle Situation aufzuklären, fehle es zudem an Arglist (E. 5).
Das Bundesgericht argumentiert wie folgt:
5.2.1. Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin eine Rechnung über Fr. 204.65 trotz zweimaliger Mahnung vorerst nicht bezahlte. Die Vorinstanz erwägt, aufgrund ihrer seit Jahren schwierigen finanziellen Situation mit laufenden Pfändungen und offenen Verlustscheinen habe sich bereits bei Vertragsabschluss Anfang August 2018 abgezeichnet, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Lage sein würde, die in Auftrag gegebenen Arbeiten fristgerecht zu bezahlen. Dies sei für sie vorhersehbar gewesen, und habe die Beschwerdeführerin eingeräumt. Sie habe somit entgegen den Tatsachen den Eindruck der rechtzeitigen Zahlungsfähigkeit und -willigkeit erweckt. Dabei sei unerheblich, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Absicht gehandelt habe, die Rechnung gar nie zu bezahlen. Die stattdessen bezahlte Rechnung für das Generalabonnement ihres Sohnes sei zudem nicht überraschend oder gar unvorhersehbar gewesen. Sodann habe die Beschwerdeführerin keine Gewissheit haben können, dass ihr der Rechnungsbetrag vom Betreibungsamt zurückerstattet werden würde und sie rechtzeitig zahlungsfähig wäre. Die Kostenübernahme sei nämlich nicht mit dem Betreibungsamt abgesprochen gewesen. Auch die effektive Bezahlung des offenen Betrages am 10. April 2019 belege keine Zahlungsbereitschaft bei Vertragsabschluss, sei sie doch unter dem Druck mehrerer Mahnungen und eines laufenden Strafverfahrens erfolgt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sei ihr Verhalten schliesslich als arglistig zu qualifizieren, da angesichts des relativ geringen Forderungsbetrags üblicherweise keine Abklärungen zur Bonität des Schuldners vorgenommen würden. Solches könne von der Gläubigerin nicht verlangt werden. Die Beschwerdeführerin habe diese wissentlich und willentlich sowie in Bereicherungsabsicht arglistig getäuscht; der Tatbestand des geringfügigen Betrugs sei erfüllt.
5.2.2. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind schlüssig. Die Beschwerdeführerin hat eingeräumt, es sei für sie bei Vertragsabschluss am 8./9. August 2018 erkennbar gewesen, dass sie die in Auftrag gegebenen Arbeiten nicht fristgerecht würde bezahlen können. Die Vorinstanz bejaht daher eine fehlende Zahlungswilligkeit und -fähigkeit innert Frist zu Recht. Dies gilt umso mehr angesichts der laufenden Pfändungen und offenen Verlustscheine, welche sich am 8. Oktober 2018 auf knapp Fr. 130’000.– beliefen. Es ist unerfindlich, inwiefern die von der Vorinstanz angenommenen schwierigen finanziellen Verhältnisse unter den gegebenen Umständen nicht erstellt sein sollen, wie die Beschwerdeführerin moniert. Entgegen ihrer Auffassung bejaht die Vorinstanz auch das Tatbestandsmerkmal der Arglist zu Recht. Ein fehlender Leistungswille stellt eine innere Tatsache dar, womit er für das Gegenüber äusserlich nicht erkennbar ist. Angesichts des geringen Forderungsbetrags war die Gläubigerin im üblichen Geschäftsverkehr nicht gehalten, die Bonität der Beschwerdeführerin vorab zu überprüfen, was diese wissen musste. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass die Unterlassung der Geschädigten derart gravierend und leichtfertig gewesen wäre, als dass sie das betrügerische Verhalten der Beschwerdeführerin in den Hintergrund treten liesse. Dabei ist zu beachten, dass die zum Ausschluss der Strafbarkeit des Täuschenden führende Opferverantwortung nur in Ausnahmefällen bejaht werden kann. Derlei Umstände liegen nicht vor, was die Beschwerdeführerin nicht darlegt. Vorsätzliches Handeln und Bereicherungsabsicht bestreitet sie nicht (Hervorhebungen durch mich).
Der Fall führt mich zu folgenden drei Fragen:
- Ist auch ein Betrüger, wer bei Vertragsabschluss schon weiss (aber verheimlicht), die Rechnung bspw. erst nach der ersten Mahnung zu bezahlen?
- Wie begründet man in solchen Fällen, dass die arglistige Täuschung den Irrtum des “Opfers” bewirkt hat?
- Wie begründet sich die (hier offenbar gar nicht bestrittene) Bereicherungsabsicht, wenn die Täterin ja bezahlen will?
einmal mehr zeigt sich, dass das strafrecht je länger je mehr für alles mögliche hinhalten muss…eine exorbitante anwendung strafrechtlicher normen hat in der geschichte des rechts noch nie gutes verheissen…die vergangenheit zeigt uns, wo das hinführen wird.
@Jürg Krumm: Genauso ist es. Was ich aber noch immer nicht begreife ist, wieso es so ist.
Auf S. 500 des “Kleinen politischen Wörterbuchs” 1978 des Dietz Verlags heißt es : „Das Strafrecht eines Staates bestimmt, welche Handlungen den Interessen der jeweils herrschenden Klasse so gefährlich sind, dass sie als Straftaten mit staatlichen Zwangsmaßnahmen unterbunden werden sollten.“
Das Strafrecht und ihre Anwendung als Instrument für Machtgewinn und Machterhalt einer Führung. In ihrem Land vermute ich das die Regelwut produziert wird durch die Erwartungshaltung der wählenden Bevölkerung, welche gelenkt wird durch ihre Presse mit reißerischen Artikeln gegen “Fremde”, “Arme”, “Üsländer” und was auch immer. Den Richtern wohl nichts anderes übrig bleibt die Erwartungshaltung ihrer Parteien und der wählenden Bevölkerung zu erfüllen, sieht man ja an ihrem Bundesstrafgericht wie “mutig” die Richter auf ihre eigene Meinung setzen.
Das sind sehr gute Fragen, Herr Kollege. Die stelle ich mir auch… Und ich frage mich zudem:
4. Worin liegt der Schaden des Gläubigers, wenn die Rechnung nachträglich (mit Mahnspesen) beglichen wird?
…oder: “Wann ist ein Betrug vollendet?” Vielleicht hätte sie für die Anwendung von Art. 52 oder 53 StGB plädieren sollen.
Vereinbart war Leistung gegen Zahlung innert x Tagen. Nach x Tagen war nicht bezahlt, die Leistung aber erbracht, der Schaden bei Ablauf der Zahlungsfrist somit offenkundig. Im Unterschied zur grossen Masse konnte hier der fehlende Zahlungswille bewiesen werden.
Denken Sie an ein KMU, bspw. einen Schreinerbetrieb, das mit seiner gesamten Belegschaft drei Monate auf einer Baustelle werkelt. Hat das einen Schaden, wenn die Bauherrschaft anschliessend nicht wie vereinbart innert zehn Tagen bezahlt, sondern erst ein Jahr später?
Geht es in diesem Fall nicht nur darum einer Wiederholungstäterin die Grenzen zu zeigen – 6 Monate unbedingt und was ist wenn die bedingt ausgesprochene Busse nicht bezahlt wird? – ob die Begründung im einten oder anderen Punkt juristisch fragwürdig ist, spielt dabei keine Rolle andernfalls hätte die Strafe reduziert oder bedingt ausgesprochen und der Verteidigerin noch ein Honorar ausgerichtet werden müssen.
Vielleicht wollte man auch der Verteidigerin eins auswischen, weil sie es wagte den Fall einer Sozialhilfebezügerin bis vors Bundesgericht zu ziehen.
Kann so ein Fall nicht mit einem Strafbefehl oder einem abgekürzten Verfahren erledigt werden, in Bern wird ein türkischstämmiger Autofahrer freigesprochen, der mit Vollgass in eine Gruppe von Demonstranten fährt und mehrere Menschen schwer verletzt … wieso dort Gnade vor Recht kommt und hier nicht leuchtet nicht ein ausser die Justiz hat schlicht Angst.
@Marco von Salis: Sie verwechseln Politik mit Recht, aber Sie sind in bester Gesellschaft.
6 Monate unbedingt und was ist wenn die bedingt ausgesprochene Busse nicht bezahlt wird?
Landet sie wohl im “Knast”.
Herr Marco von Salis, im Russischen Reich gab es ein Buch mit dem Titel “Über die Ratschläge des werten Justizministers an die Richterschaft im Russischen Reiche zu Störern von Prozessen” aus dem Jahr 1907. Da heißt es auf S. 24 oben ” Gegen Störer von Gerichtsverhandlungen welche nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen Bußgelder zu bezahlen und sich nicht ehrfürchtig vor dem Richter zeigen, nützt die Verhängung eines Bußgelds zu Lasten des Störers dem Reich deshalb, da der Störer im Kerker zum Ersatz gewiesen werden, wo dort die “Ohrana” (Wache, Geheimpolizei des Zaren) den Störer erziehen kann. Ferner nutzt es auch dem werten Richter seine Ehre wiederherzustellen, da der Störer schließlich keinerlei Ehrfurcht zu dem Richter zeigte und so den Richter vor versammelter Menge blossstellte.
Vermutete einmal der Richter schielte genau auf eine Ersatzfreiheitsstrafe ab
…auch ein Interessanter Punkt: Was und aus welchen Gründen wohl eine (Strafbefehls-) Entscheidung bis ans höchste Gericht weitergezogen werden soll: Weil die Kosten-/Nutzen-Rechnung bezüglich “Ertrag” dabei zumindest für manche aufzugehen scheint? – Oder halt einfach, weil eigene Auffassung / Standpunkt nicht einfach von einem Gericht, sondern bis zum höchsten Schweizer Gericht noch einmal überprüft werden soll? (Oder halt schlicht und einfach: Weil man “es kann”…)
Das fällt jedenfalls fast in die gleiche Kategorie wie die exorbitante (Neu-)Schaffung & Anwendung strafrechtlicher Normen…
…gemeint natürlich: eine SOLCHE (Strafbefehls-) Entscheidung… 😉