Judex non calculat?
… es sei denn, es gehe um das Honorar der amtlichen Verteidiger. Vor Bundesgericht einmal mehr umstritten war die Entschädigung der amtlichen Verteidiger für die Reisezeit, diesmal im Kanton Glarus (BGer 1B_385/2021 vom 25.10.2021). Das Bundesgericht weist die Beschwerde nach einlässlicher Darstellung der verschiedenen kantonalen Regeln ab, bewilligt dem Beschwerdeführer aber die unentgeltliche Rechtspflege und entschädigt seine Anwältin wenigstens für das bundesgerichtliche Verfahren. Hier ein Überblick aus dem Urteil des Bundesgerichts:
Im Kanton Bern zum Beispiel wird die Reisezeit der Anwältinnen und Anwälte nicht als Arbeitszeit gewertet, sondern mit einem Honorarzuschlag entschädigt (vgl. Ziff. 2 des Kreisschreibens Nr. 15 des Obergerichts des Kantons Bern vom 25. November 2016; abrufbar unter www.justice.be.ch/justice/de/index/justiz/organisation/oberge richt /downloads-publikationen.html). Für eine Reisezeit unter einer Stunde ist grundsätzlich kein Zuschlag zu gewähren, für eine Reisezeit ab einer Stunde ein solcher von Fr. 75.–, ab zwei Stunden ein solcher von Fr. 150.–, ab drei Stunden von Fr. 225.– und ab vier Stunden von Fr. 300.–. Im Kanton Basel-Stadt wird die Wegzeit innerhalb der Region Nordwestschweiz grundsätzlich nicht entschädigt (vgl. Merkblatt der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt über die Entschädigung amtlicher Mandate in Strafuntersuchungen gegen Erwachsene vom 25. August 2016; abrufbar unter www.stawa.bs.ch/strafverfahren/merkblatt-entschaedigung-amtlicher-mandate-erwachsene-und-jugendliche.html). Eine Ausnahme gilt gemäss Ziff. 4 desselben Merkblatts für Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter von ausserhalb der Region Nordwestschweiz, respektive bei Verfahrensübernahmen aus anderen Kantonen mit auswärtigen Anwältinnen und Anwälten. Dort werden bei Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln die effektiven Kosten der 2. Klasse und bei der Anreise per Auto Fr. -.70 pro Fahrkilometer entschädigt. Im Kanton Neuenburg werden die Wegzeit und die Reisekosten gemäss Art. 36a Abs. 3 der Loi d’introduction au Code de procédure pénale suisse vom 27. Januar 2010 (LI-CPP; RS/NE 322.0) nach einem Pauschaltarif von Fr. 3.80 pro Kilometer (Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte) bzw. von Fr. 2.30 pro Kilometer (Praktikantinnen und Praktikanten) entschädigt. Für Reisen ausserhalb des Kantons werden die Kosten der öffentlichen Transportmittel in der 1. Klasse zurückerstattet. Im Kanton Waadt wird die Reisezeit zu einem tieferen Stundenansatz von Fr. 120.– entschädigt und die effektiven Reisekosten (1. Klasse mit Halbtaxabonnement) werden zurückerstattet (vgl. Ziff. 2.2 der Directive no 3.3 du Procureur général du canton de Vaud vom 1. November 2016, Fixation et calcul des indemnités des défenseurs et conseils d’office; abrufbar unter www.vd.ch/toutes-les-autorites/ ministere-public/bases-legales). Soweit die amtliche Verteidigung im gerichtlichen Verfahren tätig wird, ist für Anreisen im Kanton eine pauschale Entschädigung von Fr. 120.– für Anwältinnen und Anwälte und Fr. 80.– für Praktikantinnen und Praktikanten vorgesehen. Diese Pauschale deckt sowohl die Kosten der Hin- und Rückfahrt als auch den hiefür benötigten Zeitaufwand. Unter besonderen Umständen, die zu belegen sind, kann die Entschädigung höher ausfallen (vgl. Art. 26b des Tarifs vom 28. September 2010 des frais de procédure et indemnités en matière pénale [TFiP; RS/VD 312.03.1] mit Verweis auf Art. 3bis Abs. 3 und 4 des Règlement sur l’assistance judiciaire en matière civile vom 7. Dezember 2010 [RAJ; RS/VD 211.02.3]). Im Kanton Schaffhausen schliesslich können für erforderliche Reisezeiten von mindestens einer Stunde pro Tag, die nicht zur Fallbearbeitung nutzbar sind, Fr. 100.– pro Stunde vergütet werden (vgl. § 2 Abs. 4 der Verordnung des Obergerichts über das Honorar für unentgeltliche Vertretung und amtliche Verteidigung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 10. Dezember 2010, RS/SH 173.811) [E. 4.7, Hervorhebungen durch mich].
Was es für die Bemessung der Spesen dann noch braucht ist der Sachverständige “Google Maps”. Das zu zitieren erspare ich der Leserschaft.
Wäre die Schweiz ein Kleinstaat, hätte sie solche Probleme nicht. Und wären die Anwälte Handwerker, wäre die Entschädigung der Reisezeit eine Selbstverständlichkeit.
Noch viel beeindruckender finde ich, dass die Wahrung des Anwaltsgeheimnisses im Zug mit einem Blickschutzfilter (was auch immer das sein sollte) problemlos gewahrt werden kann.
„(….) Schliesslich hat das Obergericht auch zu Recht festgehalten, dass heute technische Möglichkeiten bestehen, wie z.B. der Blickschutzfilter, die ein diskretes Arbeiten unter Wahrung des Anwaltsgeheimnisses im Zug grundsätzlich ermöglichen.“ (E. 4.).
Heutzutage erhält man nicht einmal einen Eintrag im Anwaltsregister, wenn man seine Privatadresse eintragen lassen will, weil ja das Anwaltsgeheimnis nicht gewahrt werden kann (vgl. https://www.gerichte-zh.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/obergericht/Aufsichtskommission/Anwaltst%C3%A4tigkeit_an_Privatadresse.pdf). Im Zug ist das aber kein Problem. Für die Telefonate kann man ja auch noch einen Abhörfilter benutzen. Unglaublich dieses Urteil (sowie allgemein die Tatsache, dass in jedem Kanton unterschiedliche Entschädigungsregelungen bestehen und einige Kantone sogar zu faul sind, um eigene Richtlinien zu erlassen und dann noch auf einen anderen Kanton verweisen). Achja und Art. 4 BGFA ging in der Begründung dann einfach vergessen (zusammengefasst einfach mal nicht verletzt, weil ja Art. 133 und 135 StPO nicht verletzt sind, dann muss man ja auf den Art. 4 BGFA nicht mehr eingehen).
Bzgl. der Regelung in Basel-Stadt ist das BGer offenbar nicht ganz auf dem neusten Stand: In § 22 Honorarreglement-BS ist mittlerweile (seit dem 1.1.21, also fünf Jahre nach dem zitierten Merkblatt) ausdrücklich festgehalten, dass die Reisezeit entschädigt wird. Die Regelung (entweder pauschal eine halbe Stunde oder, falls >30 km, die Hälfte der effektiven Reisezeit) ist ebenfalls nicht sehr anwaltsfreundlich, aber besser als nichts.