Juristisches Denken
Gestern hat Markus Felber (@Frechgeist) in seiner NZZaS-Kolumne einen wunden Punkt getroffen, der in der Praxis immer häufiger zu beobachten ist, insbesondere im Rahmen mündlicher Urteilsbegründungen in Strafverfahren.
Es geht um den Unwillen oder vielleicht auch das Unvermögen, juristisch zu denken.
Solches juristisches Denken weicht im Rechtsalltag zunehmend einem ergebnisorientierten Hantieren. Man sucht nicht mehr im Gesetz nach Lösungen, sondern man hat vielmehr eine bestimmte Lösung im Auge und sucht im Gesetz selektiv nach dafür sprechenden Regeln.
Der Vorwurf trifft m.E. aber auch den Gesetzgeber, der durch die Flut seiner Strafnormen die Beliebigkeit fördert.
Ach herrje, was für eine Entdeckung! Das ist doch nichts Neues. Wozu die Empörung? So funktionieren die Richter seit jeher: “Das Ergebnis kennt mein Bauch schon im Voraus, die pseudorationale Begründung schiebt mein Kopf – oder der des Gerichtsschreibers – dann hintennach. Wozu soll ich erst nachdenken? Ich habe meine (als solche natürlich als “gesund” empfundene) Meinung schon, ich bin doch kein Weichei.” So oder so ähnlich denkt’s. Das nennt man “entscheidfreudige Persönlichkeit”, übrigens ein in Anforderungsprofilen für Richter – oder sagt man heutzutage: Gerichtsperson (also wörtlich: Gerichtsmaske)? oder: Mitglied des Gerichts? – regelmässig aufgeführter Punkt. Gegen Einen selber kann sich eine solche Methodik und der daraus freudig abgeleitete Entscheid ja gewiss nie wenden, man ist ja kein gemeiner Rechtsunterworfener, sondern Herr, nicht wahr.
Darüberhinaus scheint Felber einem reinen Gesetzespositivismus das Wort zu reden. Es gibt aber – sogar im Strafrecht, trotz “nulla poena sine lege” – noch einen begrifflichen Unterschied zwischen Recht und Gesetz, aber das ist allgemein bekannt, und ich bin gewiss nicht zu dozieren befugt.
Wenn sich Juristen dem juristische Denken verweigern, können wir den Rechtsstaat oder “the rule of law” endgültig hinter uns lassen und auch endlich dazu stehen. Zum Unterscheid zwischen Recht und Gesetz hätte ich jetzt gern noch ein Wort gehört.
Über dem Gesetz steht – oder umgekehrt, wenn Ihnen die Betrachtungs- und Formulierungsweise “von unten her” besser behagt: die Grundlage des Gesetzes bildet – das Recht oder “die Rechtsidee”, als deren zwei wesentliche Bestandteile nach traditioneller Betrachtungsweise bekanntlich die Gerechtigkeit (kein Rechtsbegriff!) einerseits, die Rechtssicherheit andererseits gelten (vgl. hierzu z.B., wenn ich mich nicht irre: Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, Bern 1965).
Noch zur nachträglichen rationalen – oder scheinrationalen – Begründung eines Bauchgefühls: Man nennt das ja bekanntlich in reichlich euphemistischer – vulgo schönfärberischer – Weise auch “Methodenpluralismus”: Man nimmt dasjenige Auslegungselement, welches einem das gewünschte Ergebnis am besten zu begründen geeignet erscheint. Das ist alles altbekannt und zutiefst menschlich, wobei menschlich im vorliegenden Zusammenhang nicht heisst, dass es “gut” ist oder zu “gerechten” Ergebnissen führt. Wir Anwälte funktionieren auch so, aber wir dürfen das ja auch. 😉
Für Tiefsinnigeres müssen Sie einen Berufenen, ergo einen Professor, fragen.
Hier von Gauch:
http://www.unifr.ch/ius/assets/files/chaires/CH_Stoekli/files/Peter%20Gauch/Juristisches%20Denken%20%28korr.%20SF%205.7.2007%29.pdf
Nebst dem “ergebnisorientierten Hantierens” spielt auch die “Rechtsmittelsicherheit” eine hervorragende Rolle. Es geht den Gerichten / Behörden darum ihre Urteile 1. und 2. und 3 und 4. und und …….. rechtsmittelsicher zu “begründen”. Dazu nimmt man die Verletzung selektiver,ergebnissoffener und juristisch offenens Denkens kurzerhand in Kauf. Richter sind nicht offen / nicht fähig dafür ein “gerechtes” Urteil zu fällen. Es geht ihnen nur noch um ihre Besitzstandswahrung
Ich glaube nicht dass “Rechtsmittelsicherheit” das Problem ist, das gleiche Phänomen lässt sich nämlich auch beim Bundesgericht beobachten. Meiner Meinung nach ist es viel mehr eine Mischung aus Erledigungsdruck und Bequemlichkeit, die dazu führt, dass Begründung selten wirklich zu Ende gedacht werden.
Beim ersten Mal mag der Entscheid ja im Ergebnis sogar stimmen, aber danach werden die Textbausteine recyclet und auf Fälle angewendet, die ähnlich gelagert sind, aber leicht abweichen. Diese Resteverwertung geht dann solange weiter, bis mal ein Fall kommt, bei dem das Ergebnis überhaupt nicht mehr passt und dann wird eine neue Lösung gebastelt, die gleich wenig durchdacht ist.
Die unteren Instanzen haben im Ergebnis eine ganze Palette von Textbausteinen der oberen Instanzen zur Verfügung, die sie nach eigenem Gutdünken ergebnisorientiert verwenden können. Wenn das Ergebnis einigermassen vertretbar ist, wird die obere Instanz (auch wieder aus Bequemlichkeit und aufgrund des Erledigungsdrucks) den Entscheid der unteren Instanz schützen, auch wenn er eigentlich nicht ganz vom eigenen Präjudiz gedeckt ist.
Wie man das Problem lösen könnte weiss ich auch nicht. Tatsache ist auf jeden Fall, dass es für einen Staatsangestellten keine negativen Konsequenzen hat, wenn man sich dem juristischen Denken verweigert und auch nicht dafür belohnt wird, wenn man sich die Mühe macht. Konsequenzen gibt es allerhöchstens wenn eine bestimmte Erledigungsquote nicht erreicht wird, aber nicht wenn die Quote mit qualitativ schlechter Arbeit erfüllt wird.
Ich empfehle den frustrierten Herren Anwälten dringend die Lektüre von Luhmann (Niklas Luhman: Das Recht der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, 7. und 8. Kapitel, https://steffenroth.files.wordpress.com/2012/03/recht-der-gesellschaft.pdf). Die spezifische Funktion der Gerichte in der Gesellschaft ist es, Unentscheidbares zu entscheiden, mit Rücksicht auf die Folgen dieser Entscheidung. Die juristische Argumentation dient demgegenüber der “Einbettung” des (notwendig unbegründbaren) Einzelfallentscheides in die juristische Diskussion. Mit Blick auf letzteres kann man angeblich fehlende Qualität der Entscheidbegründungen durchaus bemängeln, kaum aber mit Blick auf den Entscheid an sich.
Danke für den Tipp und den Link (hoffe der ist urheberrechtlich unbedenklich).
Die frustrierten Herren Anwälte sind nichst als besorgte citoyans, die sich über die herrschende “Rechtsstaatlichkeit” Sorge machen. Ich lese Luhman, glaube allerdings kaum, dass er mir weiterhilft.
Es ist wie überall: Es gibt gute und schlechte Berufsleute, fleissige und faule. Bei den Juristen gibt es aber auch noch Richter und Anwälte (die Reihenfolge hat nichts mit vorangehenden zu tun) und unter diesen sieht (fast) jeder immer nur die negativ zu Bewertenden der anderen Seite – und er meint dabei erst noch, den Sachverhalt umfassend erfasst zu haben.
Ein paar Unterschiede gibt es: Schlechte Anwälte scheitern früher oder später, schlechte Richter werden früher oder später befördert. Anwälte verhängen keine Strafen, gute nicht wie schlechte. Anwälte haften für sorgfältige Auftragserfüllung, Richter für nichts. Richter – auch schlechte – haben die Kompetenz, Menschen – auch unschuldige – in die Anstalt zu schicken. Und Richter werden fast immer zumindest von einer Partei und ihrem Anwalt gelobt. Schlechte Anwälte sind ärgerlich, schlechte Richter eine Katastrophe.
@kj Aber, aber die Richter werden doch bei uns gewählt und nicht befördert. Zum einen existiert damit doch an vielen Orten eine gute Auswahl, zum andern stehen nur die Richter (die guten wie die schlechten) unter einem fortwährenden Druck der Wiederwahl. Richter haften zwar nicht finanziell aber gerade der Strafrichter steht unter dem ständigen Mediendruck, v.a. wenn sich eine nicht vorhersehbare und vorhergesehene Gefahr bei einem Straftäter verwirklicht. Der Strafrichter wird selten gelobt und die Strafkompetenz bringt eine Verantwortung gegenüber dem eigenen Gewissen. Die zu tragen ist nicht immer so einfach, wie sich der Anwalt vorstellen mag. Der Sachverhalt wird – wie gesagt – selten ganz erfasst, auch hier nicht.
Zugegeben, Beförderung war der falsche “terminus technicus”. Aber gewählt wird kaum je nach fachlicher Kompetenz (wozu nicht nur die juristische gehört). Und der Mediendruck wirkt praktisch ausschliesslich in Richtung Verurteilung und harte Strafen/Massnahmen. Ich kenne etliche Beispiele, in denen Richter durch die Medien gelobt wurden, wenn sie harte Strafen gefällt habe und kritisiert werden, wenn sie mild waren. Die Verantwortung gegenüber dem eigenen Gewissen ist weder messbar noch sichtbar und kann somit kein Kriterium für die Ausübung eines wichtigen Amtes sein. Aber letztlich ist das für mich alles nicht so wichtig. Wichtig ist mir allein, dass die Urteile auf ergebnisoffenem juristischem Denken und nicht auf Bauchgefühlen und gesundem Menschenverstand beruhen. Letzterer ist übrigens das am besten verteilte Gut, weil jeder glaubt, davon am meisten zu besitzen. Zumindest aus ökonomischer Sicht muss es wertlos sein.
Es war und ist keineswegs meine Absicht, den Berufsstand der Richter pauschal zu verdammen. Aus diesem Grund habe ich ja auch die Anwaltschaft explizit in meine Ausführungen eingeschlossen.
Bekanntlich ist die Sache einigermassen kompliziert. Eine nähere Betrachtung würde vermutlich ergeben, dass wir uns nicht einmal über den Begriff des Gesetzes verständigen könnten.
Die selektive Berücksichtigung der Auslegungselemente (Auslegungsmethoden) ist angesichts der weitgehenden Undurchschaubarkeit der Rechtsordnung als Ganzes völlig verständlich. Um den Nexus zum vorstehend erwähnten Luhmann herzustellen: Die Auswahl oder Bevorzugung eines bestimmten Auslegungselements reduziert die der Findung eines Entscheides entgegenstehende Komplexität. Weil die irdische Rechtsordnung als von Menschen geschaffene, von Menschen auf Menschen anzuwendende Satzung keineswegs ein objektiv Gegebenes darstellt, sondern in jedem Einzelfall neu gefunden – oder vielmehr sogar in jedem Einzelfall eigentlich neu erfunden – werden muss, kann man mit ihr kaum anders sinnvoll umgehen, als in der beschriebenen, ihre Komplexität zum Zwecke der Ermöglichung einer Entscheidfindung reduzierenden Weise. Das hat nichts mit mangelndem „juristischem Denken“ oder gar „Dummheit“ zu tun, sondern mit der fehlenden Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Ganzes, einzelner Gesetze, ja sogar einzelner Rechtsnormen.
Jedenfalls bleibt das offensichtliche Aufzäumen des Pferdes vom Schwanz her, mithin die Entwicklung des Tatbestandes vom erwünschten Ergebnisse aus, nach meiner Erfahrung ein weitum beliebter Sport.
@Bravocado: Letzteres deckt sich auch mit meiner Erfahrung. Was ich aber nicht begreife: woran liegt es? was ist so verlockend daran, seinen Job bewusst falsch zu machen oder jedenfalls banalste wissenschaftliche Erkenntnisse zu missachten?