Justiz: Von der Garantin der Freiheit zur Garantin der Sicherheit
Aus einer vom Bundesgericht abgewiesenen Haftbeschwerde (BGer 1B_48/2015 vom 03.03.2015):
Die im Fall einer Haftentlassung zu befürchtenden Delikte sind schwerer Natur, denn es stehen Leib und Leben, somit die höchsten Rechtsgüter auf dem Spiel. Insoweit darf das Gericht an die Annahme von Wiederholungsgefahr keinen allzu strengen Massstab anlegen, da es andernfalls mögliche Opfer einer nicht verantwortbaren Gefahr aussetzen würde (Urteil 1B_12/2013 vom 1. Februar 2013 E. 4.2.3). Der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist nach dem Gesagten gegeben (E. 4.4.3, Hervorhebungen durch mich).
Die Vortaten bestanden im vorliegenden Fall in Antragsdelikten.
Beunruhigender ist aber, dass sich die Justiz neuerdings ganz direkt in der Verantwortung für die öffentliche Sicherheit zu sehen scheint. Es wäre gemäss Bundesgericht das Gericht höchstselbst, das mögliche Opfer durch eine Haftentlassung einer nicht verantwortbaren Gefahr aussetzen würde (ähnlich bereits BGE 123 I 268 E. 2e).
Früher war die Justiz die Garantin der Freiheit. Heute glaubt sie, die Sicherheit garantieren zu müssen.
In Deutschland gibt es ja – nach Auffassung einiger Akteure – das Supergrundrecht “Sicherheit” mit welchem sämtliche staatlichen Massenübewachungsmassnahmen gerechtfertigt werden sollen…
Anders verhält sich die Justiz bei Wirtschaftskriminellen. Selbst bei gesicherter Kenntnis, dass ein aktenkundiges und im Detail bekanntes Betrugsmodell weiterhin angewandt wird, würde sie niemals vorbeugende Massnahmen ergreifen. Hier unterzieht sie sich vermutlich dem hohen Gut der Gewerbefreiheit, welches um Lichtjahre über den ansonsten gepflegten Sicherheitsbedenken zu stehen scheint.
Die im Blog festgestellte Tendenz zur Maximierung angeblicher Sicherheit entspricht dem allgemeinen Bedürfnis wie es auch von den Medien (zur Steigerung der Lerserzahlen) dargestellt wird.
Wer wie vorliegend
“Strafverfahren wegen mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher versuchter einfacher Körperverletzung, Tätlichkeiten, mehrfachen Diebstahls, Sachbeschädigung, mehrfacher Beschimpfung, mehrfacher Drohung, Gewalt gegen Beamte, Nichtanzeigen eines Fundes und mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes.”
beschuldigt ist, gehört ganz einfach hinter Gitter – Basta.
Ich könnte mir vorstellen, dass der EGMR diese Frage ganz anders beantwortet, aber das sind dann eben “fremde Richter”.
Genau! Es ist ja alles bereits klar, so dass es keinen Richter (fremd oder eigen) mehr braucht, der diesen Schwerverbrecher auch noch in einem teuren Leerlaufprozess verurteilt – Basta!
Ich finde die grundlosen Attacken genügend gravierend, um die Haft zu verhängen, oder soll man im Namen der persönlichen Freiheit warten, bis er eine Person schwer verletzt? Ich gehe davon aus, dass die lange Zeit der Haft zur psychiatrischen Abklärung genutzt wird. Wäre er nicht verhaftet worden, hätten wohl ohnehin die Vorausstzungen für eine FU vorgelegen, d.h. der Beschwerdeführer wäre auch so nicht einfach freigelassen worden.
Die Justiz bzw. das Bundesgericht ist auch in diesem Fall als Hüterin der Freiheit aufgetreten: Der Freiheit von den Personen, die aufgrund der angeordneten Untersuchungshaft nicht durch den Beschuldigten – der innert wenigen Tagen zahlreiche zufällig ausgesuchte Personen verletzte – in ihrer körperlichen Integrität verletzt worden sind.
@Felix: vielleicht richtig, wenn man Sicherheit als Voraussetzung für Freiheit sieht. Diese Prämisse ist aber m.E. unhaltbar, auch wenn sie auf den ersten Blick plausibel ist.
Vielleicht ist die Aussage des Bundesgerichts eine Argumentationshilfe für die Chaaban-“Haftungsinitiative”. Wenn Richter für ihre Fehler haften müssen, dann doch nur darum, weil sie tatsächlich eine Gefahr schaffen bzw. es erst ermöglichen, dass die späteren Täter erneut plündern und brandschatzen (oder so ähnlich).
@ Alex: Eine psychiatrische Abklärung kann auch ohne Haft stattfinden und umgekehrt bedeutet Untersuchungshaft nicht, dass jemand psychiatrisch abgeklärt wird. Die Mitwirkung bei einer psychiatrischen Begutachtung kann letztlich auch nicht erzwungen werden. Im Übrigen hat Untersuchunghaft ganz andere Voraussetzungen als die fürsorgerische Unterbringung (FU) – wobei das zugegebenermassen auch Gerichte schon verkannt haben. Beim FU geht es darum, den Betroffenen zu schützen, bei der U-Haft geht es um so ziemlich alles andere.
@malo: Danke! Genau das ist der Punkt.