Kantonales Pseudo-Strafprozessrecht
Viele Kantone sind dabei, ihre Polizeigesetze so auszubauen, dass Zwangsmassnahmen auch ohne Tatverdacht und damit ausserhalb der StPO zur Anwendung kommen dürfen, also rein präventiv (man beachte den dahinter verborgenen Irrsinn!).
Für den Kanton Bern hat das Bundesgericht nun einen Teil der Bestimmungen nach öffentlicher Beratung als verfassungswidrig erklärt (BGE 1C_181/2019 vom 29.04.2020, schriftliche Begründung ausstehend, vgl. aber die Medienmitteilung des BGer).
Als einer der nächsten Kantone wird sich voraussichtlich der Kanton Solothurn vor Bundesgericht blamieren (der Kantonsrat wird den Entwurf der Polizei trotz des Widerstands des SolAV bestimmt durchwinken).
Aus der Medienmitteilung des BGer zum bernischen Poilzeigesetz:
Gemäss Artikel 118 Absatz 2 PolG/BE kann die Kantonspolizei zur Erkennung und Verhinderung von Verbrechen und Vergehen technische Überwachungsgeräte einsetzen, um den Standort von Personen oder Sachen festzustellen. Hauptanwendungsfall dieser Norm ist die Echtzeitüberwachung durch ein an einem Fahrzeug angebrachtes GPS-Gerät. Dabei ist von einem nicht leichten Eingriff in die Privatsphäre auszugehen. Die Regelung im PolG/BE zur präventiven polizeilichen GPS-Überwachung entspricht fast wortgleich derjenigen zur GPS-Überwachung im Rahmen einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft gemäss der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO); sie unterliegt dabei aber deutlich weniger strengen Voraussetzungen und soll in einem Zeitpunkt möglich sein, in dem noch gar keine Straftat erfolgt ist. Ohne mindestens dieselben verfahrensrechtlichen Garantien vorzusehen, die bei einer GPS-Überwachung gemäss StPO zur Anwendung kommen, vermag die Regelung im PolG/BE den Grundrechtseingriff nicht zu rechtfertigen, weshalb sie aufzuheben ist.
1984’s big brother is watching you!
@ good old george: Sobald man gezielt konkrete personen (im unterschied zu öffentlichen orten) anlasslos überwacht, sind wir so ziemlich in deiner vision angekommen. Ein bisschen literatur würde unseren gesetzgebern gut tun. Aber die sind dafür häufig nicht so ansprechbar, weil literatur ja nichts nützliches ist.
Die Beschuldigtenperspektive des Strafprozesses ist lästig…Beschuldigtenrechte, fair trial, alles entbehrlich. Da sollte man doch meinen, dass die Kantone wenigstens im Polizeirecht über die Stränge schlagen und frisch von der Leber weg legiferieren dürfen…
Im Ernst: Es ist erstaunlich, dass nach mehreren teilweise aufgehobenen Polizeigesetzen – Zürich, Genf, Luzern, Bern – es die Kantone immer noch nicht schaffen, verfassungs- und konventionskonforme Gesetze zu erlassen. Entweder ist das Motto der kantonelen Polizeidirektoren “Steter Tropfen höhlt den Stein” oder die KKJPD erfüllt ihren Job nicht.
Durchgekommen ist der Schnüffelparagraph.
Die Gegnerinnen und Gegner der Revision stören sich am sogenannten «Schnüffelparagraphen». Dass die Polizei ohne Anfangsverdacht einen Monat lang die Privatsphäre von Personen observieren dürfe, gehe zu weit. Solange das Bundesgericht nicht entschieden habe, gelte noch das alte Gesetz, so Philippe Müller, Sicherheitsdirektor des Kantons Bern. Er hat wenig Verständnis für die Einwände der Gegner: «Ich verstehe nicht, weshalb man die Polizei nicht machen lässt.» Man setze nur bei schweren Delikten – bei organisierter Kriminalität etwa – auf diese Art der Überwachung. Müller ist zuversichtlich, dass das Bundesgericht den Artikel genehmigen wird….
Offenbar wird dieses “etwa bei” ziemlich weit ausgelegt. Bspw. also auch bei anderen Fällen, die nichts mit organisierter Kriminalität zu tun haben. Und was macht dann die Polizei mit Beweisen, die sie ohne Anfangsverdacht “gefunden” hat?
So geht der Abbau des Rechtsstaats seines Weges.
@inkognito: Das eigentliche Problem wird einfach nicht erkannt. Bei (schweren) Delikten braucht es kein Polizeirecht, sondern eben Strafprozessrecht, und dafür sind die Kantone nicht zuständig. Die Aussage von Müller ist ein Beleg dafür, dass die Kantone nicht Polizeirecht, sondern Strafprozessrecht schaffen.