Kaum fassbare Rechtsprechung zur Fluchtgefahr
Das Bundesgericht heisst in einem neuen Entscheid (BGEr 1B_20/2012 vom 01.12.2012) eine Haftbeschwerde gut, was im Hinblick auf einen Entscheid von letzter Woche (vgl. meinen früheren Beitrag) sehr erstaunt und wohl nur mit der unterschiedlichen Zusammensetzung des Gerichts (inkl. Gerichtsschreiber) zu erklären ist.
Zu beurteilen war Sicherheitshaft, die nach dem erstinstanzlichen Urteil (bedingte Freiheitsstrafe von 2 Jahren) von der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts verfügt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte eine deutlich höhere Strafe beantragt und Berufung angemeldet. Dazu führt das Bundesgericht folgendes aus:
Die Beurteilung des Appellationsgerichtspräsidenten, der die Berufung der Beschwerdeführerin ausblendet und allein mit Blick auf den hohen Strafantrag der Staatsanwältin davon ausgeht, die Beschwerdeführerin habe im Berufungsverfahren nichts zu gewinnen und viel zu verlieren, weshalb von einem starken Fluchtanreiz auszugehen sei, erscheint jedenfalls etwas einseitig und wird der Sachlage nicht hinreichend gerecht. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Standpunkt weitgehend durchdringt oder wenigstens die von der Staatsanwältin geforderte, weit strengere Verurteilung abwenden kann. Ihre Erfolgsaussichten würde sie allerdings stark beeinträchtigen, wenn sie der Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleiben und darauf verzichten sollte, dem Appellationsgericht ihre Sicht der Dinge persönlich vorzutragen. Es liegt somit objektiv in ihrem vorrangigen Interesse, sich dem Verfahren zu stellen und nicht unterzutauchen (E. 2.2.1).
Bei den konkreten Umständen, die das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Fluchtgefahr würdigt, kann man angesichts der sonst so strengen Rechtsprechung nur staunen:
Zutreffend ist sodann, dass die Beschwerdeführerin ein eher unstetes Leben zwischen der Schweiz, Italien, Holland und der Dominikanischen Republik führt. Zurzeit gibt sie an, in Grenchen bei ihrer Mutter zu wohnen, wobei sie sich offenbar nicht korrekt angemeldet hat. Immerhin ist davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin vorzugsweise in der Schweiz (wo sie auch Arbeitslosenunterstützung bezog), Italien und Holland aufhält und damit in Ländern, in denen sie sich auf Dauer der Verbüssung einer von einem schweizerischen Gericht ausgesprochenen Freiheitsstrafe kaum entziehen könnte. Es besteht somit zwar durchaus die Möglichkeit, dass die Beschwerdeführerin in Freiheit versuchen könnte, sich einem allfälligen Zugriff der schweizerischen Strafbehörden zu entziehen, sehr wahrscheinlich ist dies allerdings nicht. Damit ist eine die Fortführung der Sicherheitshaft rechtfertigende Fluchtgefahr zu relativieren (E. 2.2.2).
Aufhorchen lassen schliesslich die Erwägungen zur Verhältnismässigkeit, welche zu Recht berücksichtigen, dass die bedingte Freiheitsstrafe durch die Fortdauer der Sicherheitshaft faktisch in eine unbedingte umgewandelt wird:
Die Fortführung der Sicherheitshaft ist im Übrigen auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit fragwürdig. Diese darf nach der Rechtsprechung nur solange erstreckt werden, bis ihre Dauer in grosse Nähe der zu erwartenden Strafe rückt; dies auch deshalb, weil ansonsten das erkennende Gericht versucht sein könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (BGE 133 I 168 E. 4.1 mit Hinweisen). Die bisher von der Beschwerdeführerin erstandene Haft von 10 Monaten erscheint zwar von ihrer absoluten Dauer her noch nicht unverhältnismässig. Auch wenn die Möglichkeit des bedingten Strafvollzugs in der Regel bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit nicht zu berücksichtigen ist, so kann in der vorliegenden Konstellation doch nicht einfach ausgeblendet werden, dass die Beschwerdeführerin vom Strafgericht zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die nun faktisch in eine unbedingte umgewandelt wird, jedenfalls wenn die Sicherheitshaft nach erklärter Absicht der Staatsanwältin bis zur Berufungsverhandlung, mit der wohl bestenfalls in mehreren Monaten gerechnet werden kann, fortgesetzt werden soll. Das wäre auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit kaum zu rechtfertigen (E. 2.3).
Ganz zu Ende geht das Bundesgericht den Weg allerdings nicht. Es weist an die Vorinstanz zurück mit dem Auftrag, die offengelassene Frage der Kollusionsgefahr (nach erstinstanzlichem Urteil!) und allenfalls Ersatzmassnahmen zu prüfen.
Es ist zuzugestehen, dass hier die Konstellation anders war als im eingangs referenzierten Entscheid. Was aber die Ausführungen zur Konkretheit der Fluchtgefahr (E. 2.2.2) betrifft, ist ein Vergleich sicher zulässig. Dieser Vergleich zeigt, dass die Rechtsprechung unberechenbar ist. Es kommt offenbar in erster Linie darauf an, welches “Aroma” ein Fall hat, welchen Gesamteindruck er hinterlässt. Das wiederum erklärt den Eindruck, dass manchmal vom Ergebnis her argumentiert wird.