Kein Schuldspruch im selbständigen Massnahmenverfahren, dafür notwendige Verteidigung à la BGG?
In einem zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil, hat der Präsident der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts einen Anwalt als unentgeltlichen Rechtsvertreter des Beschwerdeführers gemäss Art. 41 Abs. 1 Satz 2 BGG eingesetzt, ihm Frist zur Einreichung einer Beschwerde angesetzt und ihn anstatt mit der üblichen Parteientschädigung mit CHF 5,000.00 entschädigt (BGE 6B_360/2020 vom 08.10.2020). Dieses – soweit mir bekannt – einmalige Entgegenkommen muss am angefochtenen Urteil liegen, das derart dringend zu korrigieren war, dass hochgehaltene Grundsätze zulasten der Rechtssuchenden aufgegeben werden mussten. Es liegt mir fern, das Vorgehen zu kritisieren, aber man wird sehen, ob dieses gute Beispiel wirklich Schule machen wird.
In der Sache geht es um verschiedene Fragen, die sich stellen, wenn Straftaten durch schuldunfähige Täter begangen werden.
Aus dem Gesagten folgt zusammengefasst, dass es sich beim Verfahren bei einer schuldunfähigen beschuldigten Person um ein vom ordentlichen Verfahren klar abzugrenzendes selbstständiges, besonderes Verfahren handelt, in dem mangels Vorwurfs eines schuldhaften Verhaltens kein Schuldspruch ergehen kann. Es gelangt in Fällen zur Anwendung, in denen bereits im Vorverfahren die Schuldunfähigkeit hinsichtlich aller zu beurteilenden Straftaten eindeutig festgestellt wird und aus diesem Grund keine Anklage ergehen kann. Damit ist ein Schuldspruch im Rahmen eines selbstständigen Massnahmeverfahrens gemäss Art. 374 f. StPO ausgeschlossen (E. 1.3.7, Hervorhebungen durch mich).
Im vorliegenden Fall hat die erste Instanz im selbständigen Massnahmenverfahren schuldig gesprochen, was fast zur Nichtigkeit führte, aber eben doch nur fast:
Die erste Instanz beging einen besonders schweren und offensichtlichen Verfahrensfehler, in dem sie in einem Verfahren gemäss Art. 374 f. StPO einen Schuldspruch aussprach. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass sie – wenn das Verfahren gegen den Beschwerdeführer den vom Gesetz vorgesehenen Gang genommen hätte – für die Beurteilung der Anklage gegen ihn im ordentlichen Verfahren gemäss Art. 328 ff. StPO örtlich, sachlich und funktionell zuständig gewesen wäre. Angesichts der gesamten Umstände liegt vorliegend gerade noch keine Nichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils vor; das fehlerhafte erstinstanzliche Urteil ist anfechtbar (E. 1.4.4, Hervorhebungen durch mich).
Der Rest des Entscheids dreht sich um ein ungenügendes Gutachten:
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das schriftliche Gutachten insofern mangelhaft ist, als der Sachverständige die an ihn gestellten Fragen teilweise nicht eindeutig beantwortet (hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit) und seine Erkenntnisse bzw. Schlussfolgerungen unzureichend begründet (hinsichtlich der Diagnosen). Zwar hat er dies mündlich nachgeholt, jedoch ist er dabei teilweise von seiner Einschätzung im Gutachten abgewichen. Ferner hat sich anlässlich der Einvernahme ergeben, dass der Sachverständige Ereignisse, welche die Diagnose beeinflussen können, im schriftlichen Gutachten nicht berücksichtigt, und seine Schlussfolgerungen vereinzelt auf einer Anmutung beruhen, worauf er im Gutachten nicht hinweist. Vorliegend wurde der Sachverständige mit der schriftlichen Erstattung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens beauftragt (vgl. Art. 187 Abs. 1 StPO). Zwar kann die Verfahrensleitung – wie vorliegend geschehen – anordnen, dass ein schriftlich erstattetes Gutachten mündlich erläutert oder ergänzt wird (Art. 187 Abs. 2 StPO). Jedoch sprengen die gutachterlichen Ausführungen vorliegend den Rahmen einer solchen mündlichen Erläuterung bzw. Ergänzung des Gutachtens. Vielmehr holte der Sachverständige die Begründung seiner Schlussfolgerungen, die er im schriftlichen Gutachten hätte vornehmen sollen, nach und gelangte teilweise sogar zu einer anderen Einschätzung als im Gutachten. In einer solchen Situation wäre ein Vorgehen nach Art. 189 StPO angezeigt gewesen. In ihrer Gesamtheit sind die dargelegten Mängel, die zentrale Punkte des Gutachtens betreffen, derart gravierend, dass das Gutachten keine rechtsgenügliche Grundlage für die Beurteilung der Schuldfähigkeit und die Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung einer Massnahme darstellt. Die Rüge des Beschwerdeführers, die vorinstanzliche Feststellung, wonach am Gutachten keine Mängel auszumachen seien, dieses sei vollständig, nachvollziehbar und schlüssig, sei willkürlich, ist begründet (E. 2.4.5).
Bemerkenswert kreativ ist auch die Argumentation des Bundesgerichts, wieso das Obergericht den Teilschuldspruch – welcher ja gerade knapp nicht auf einem nichtigen Urteil basiert – hätte aufheben müssen, obwohl der Beschwerdeführer diesen vor Obergericht gar nicht angefochten hat.