Keine Anklageerweiterung im Berufungsverfahren
In einem Rechtsmittelverfahren auf Berufung des Beschuldigten und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft hat das Obergericht ZH anlässlich der Berufungsverhandlung beschlossen, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage einzuladen (bereits hier stehen jeder Verteidigerin und jedem Verteidiger die Haare zu Berge). Die Staatsanwaltschaft hat die Einladung dankend angenommen und zusätzliche Handlungen in einer ergänzten Anklageschrift zur Anklage gebracht. Das Obergericht hat in diesem neuen Anklagepunkt – wenig überraschend und quasi einladungsgemäss – verurteilt.
Das Bundesgericht spricht deutliche Worte gegen diese Praxis, die sich in etlichen Kantonen langsam aber sicher einzustellen schien (BGE 6B_1370/2019 vom 11.03.2021, Publikation in der AS vorgesehen).
Die Vorinstanz war unter keinem Titel befugt, die Anklage ergänzen zu lassen und gestützt darauf einen zusätzlichen Schuldspruch zu fällen (E. 1.6. Hervorhebungen durch mich).
Das Bundesgericht begründet dieses Ergebnis ausführlich und jeder Beziehung überzeugend, ohne alle denkbaren Argumente gegen die Anklageerweiterung ansprechen zu müssen. Ich verweise auf den verlinkten Entscheid und die angegebenen Bestimmungen der StPO. Ich frage mich ernsthaft, ob Berufungsrichter, die eine solche Einladung beschliessen, ihre Funktion wirklich begriffen haben. Vielleicht wollten sie den Beschuldigten gar vor einem neuen Strafverfahren schützen. Das rechtfertigt aber m.E. nicht, anerkannte und mehrfach kodifizierte Rechtsgrundsätze über Bord zu werfen.
Wurde nicht in diesem Blog mehrmals auf Bundesgerichtsentscheide hingewiesen, in denen zu lesen war, dass eine Anklage auch noch im Berufungsverfahren ergänzt werden könne, z.B. anlässlich der Berufungsverhandlung?