Keine Anschluss-Anschlussberufung
Das Bundesgericht entscheidet in einem neuen Grundsatzentscheid, dass der Hauptberufungsführer auf eine Anschlussberufung hin keine weitere Anschlussberufung geltend machen kann (BGE 6B_37/2024 vom 24.02.2024, Publikation in der AS vorgesehen):
Pour autant, le fait que le législateur ait ainsi voulu offrir à la partie intimée à l’appel principal la possibilité d’y réagir et d’en élargir l’objet en formant à son tour un appel joint ne permet pas de considérer qu’il aurait également eu l’intention de ménager, mutatis mutandis, la même possibilité à l’appelant principal, une fois l’appel joint interjeté. Outre qu’elle se heurterait aux arguments tirés d’une interprétation littérale, historique et systématique évoqués plus haut, une telle solution irait au-delà du but de l’appel joint qui, par essence, se conçoit comme une faculté à l’unique disposition de la partie intimée à l’appel principal. À cela s’ajoute encore le fait qu’une solution tendant à reconnaître la possibilité, pour un appelant principal, censé avoir choisi de façon définitive de limiter l’objet de son appel, de déposer un appel joint sur un appel joint serait également contradictoire par rapport au souci d’économie du procès et d’allègement de la procédure évoqué dans le contexte des art. 399 al. 4 et 404 CPP. Une telle solution serait au demeurant susceptible, en poussant à son terme la logique qui la sous-tend, de générer une cascade d’appels joints au gré de possibles extensions successives de l’objet de la procédure. Elle serait ainsi, potentiellement, source de complications procédurales non négligeables. Finalement, on ne saurait perdre de vue qu’il revient à la partie qui annonce l’appel (principal) de choisir, au moment de déposer sa déclaration d’appel, si elle entend contester le jugement dans son ensemble ou seulement certaines parties. On comprendrait d’autant moins qu’il puisse être possible à une partie ayant opéré à ce stade le choix délibéré de limiter l’objet de son appel principal d’y revenir par la suite par le biais d’un appel joint sur appel joint, alors même qu’elle disposait à l’origine de la faculté de contester le jugement dans son ensemble (E. 4.4.4).
In Anlehnung an das bereits in diesem Beitrag Gesagte lohnt es sich, den für die Praxis bedeutsamen BGE, insbesondere wegen der methodengeleiteten Gesetzesauslegung , genauer zu betrachten.
Ein relevanter Punkt ist die im Berufungsverfahren herrschende Dispositionsmaxime (vgl. E. 4.2). Gemäss Art. 399 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 StPO (sowie Art. 404 Abs. 1 StPO) bestimmen die Parteien den Streitgegenstand. Das Berufungsgericht prüft das erstinstanzliche Urteil nur in dem Umfang, wie es angefochten wird. Wer die Möglichkeit nutzt, die Berufung auf bestimmte Punkte zu beschränken (Art. 399 Abs. 4 StPO), tut dies, wie sich weiter unten zeigen wird (E. 4.4.1), gemäss Wortlaut des französischen Gesetzes „definitiv“ resp. deutsch „verbindlich“.
Ganz im Zentrum der bundesgerichtlichen Argumentation steht jedoch die Notwendigkeit einer sorgfältigen und methodengeleiteten Gesetzesauslegung. Es kann nicht darum gehen, Gesetze nach Belieben oder vermeintlicher Zweckmässigkeit auszulegen. Vielmehr folgt es bekanntlich nach geltender Rechtsprechung einem pragmatischen Methodenpluralismus, der den Wortlaut (wörtliche Auslegung), die Entstehungsgeschichte (historische Auslegung), den Zweck und Geist der Norm (teleologische Auslegung) sowie deren Stellung im Gesetzesganzen (systematische Auslegung) berücksichtigt, um den wahren Sinn einer Bestimmung zu ermitteln (vgl. E. 4.1).
Gerade bei der Frage der „Anschlussberufung zur Anschlussberufung“ gehen die Meinungen in der Rechtslehre auseinander. Während Autoren wie Schmid/Jositsch und Zimmerlin eine solche Möglichkeit befürworten, wenn die Anschlussberufung der Gegenpartei neue Punkte aufwirft, lehnt Oberrichter (BE OGer) Jürg Bähler dies ab. Er argumentiert, dass eine solches Vorgehen gesetzlich nicht vorgesehen sei und dem Sinn und Zweck der Anschlussberufung widerspreche, welche nicht dazu diene, dem Hauptberufungskläger eine zweite Chance zu geben, nachdem er bewusst auf eine umfassendere Anfechtung verzichtet hat (vgl. E. 3.2). Das Bundesgericht schliesst sich in seiner Analyse ausdrücklich der stimmigen Einschätzung von Bähler an.
E. 4.3: Entstehung der Problematik durch Art. 401 Abs. 2 StPO
Die Diskussion über eine „Anschlussberufung zur Anschlussberufung“ ist eine Folge der Regelung in Art. 401 Abs. 2 StPO. Diese Bestimmung legt fest, dass die Anschlussberufung nicht auf die Punkte beschränkt ist, die mit der Hauptberufung angefochten werden (ausser bei rein zivilrechtlicher Hauptberufung). Der Gesetzgeber hat sich bewusst für diese Lösung entschieden, um Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden, die bei früheren kantonalen Prozessordnungen auftraten, welche die Anschlussberufung teilweise auf die Punkte der Hauptberufung beschränkten.
Genau diese gesetzgeberische Entscheidung (weite Anschlussberufung) schafft das Problem: Wenn die Gegenpartei mit ihrer Anschlussberufung neue Punkte aufwirft, könnte die Hauptberufungsklägerin, wie im vorliegenden BGE versucht sein, ihrerseits auf diese neuen Punkte mit einer weiteren Berufung zu reagieren. Der Abschnitt stellt klar, dass Art. 401 Abs. 2 StPO diese spezifische Frage (Reaktion auf die Anschlussberufung) aber nicht explizit beantwortet und eine breitere Betrachtung nötig ist.
E. 4.4: Methodengeleiteten Gesetzesauslegung
E. 4.4.1 (Literal-/Historische Auslegung):
Art. 399 Abs. 4 StPO: Der Wortlaut dieser Bestimmung ist zentral. Wer die Berufung auf bestimmte Teile beschränkt, muss dies in der Berufungserklärung „verbindlich“ („manière définitive „) tun. Das Wort „definitiv“ resp. „verbindlich“ ist nach Ansicht des BGer eindeutig und schliesst eine spätere Erweiterung durch die Hauptberufungsklägerin aus, auch nicht als Reaktion auf eine Anschlussberufung.
Historische Auslegung: Die Materialien (Botschaft zur StPO) bestätigen, dass der Umfang der Berufung nach der Erklärung nicht mehr erweitert werden kann. Würde man eine „Anschlussberufung zur Anschlussberufung“ zulassen, würde die in Art. 399 Abs. 4 StPO geforderte verbindliche Festlegung weitgehend ihres Sinnes entleert. Die Hauptberufungsklägerin könnte ihre ursprüngliche, bewusste Beschränkung umgehen.
E. 4.4.2 (Systematische Auslegung):
Verweisstruktur: Art. 401 StPO (Regeln für Anschlussberufung) erklärt Art. 399 Abs. 3 und 4 StPO (Möglichkeit der Beschränkung und deren verbindliche Natur) für die anschlussberufende Partei für analog anwendbar. Das heisst, auch die Anschlussberufung kann beschränkt werden, und diese Beschränkung ist dann definitiv resp. verbindlich.
Fehlender Verweis: Entscheidend ist jedoch, dass Art. 401 StPO nicht auf Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO verweist, soweit es die Hauptberufungsklägerin betrifft. Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO räumt der Gegenpartei (also der „passiven“ Partei) das Recht ein, innert 20 Tagen nach Zustellung der Berufungserklärung eine Anschlussberufung einzulegen. Das Gesetz sieht diese Möglichkeit aber systematisch nicht für die Hauptberufungsklägerin vor. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, hätte er einen entsprechenden Verweis in Art. 401 StPO aufnehmen müssen. Das Fehlen dieses Verweises spricht systematisch klar gegen die Zulässigkeit einer „Anschlussberufung zur Anschlussberufung“.
E. 4.4.3 (Teleologische Auslegung – Zweck der Anschlussberufung):
Die Anschlussberufung soll der Partei, die sich mit dem Ergebnis des erstinstanzlichen Urteils grundsätzlich abgefunden hätte und deshalb auf eine eigene Berufung verzichtet hat, ermöglichen, doch noch diejenigen Punkte anzufechten, mit denen sie nicht einverstanden ist, wenn die Gegenpartei ihrerseits Berufung einlegt.
Sie erlaubt es, von der Regel tantum devolutum quantum appellatum (es wird nur überprüft, was angefochten ist) abzuweichen und dem Berufungsgericht eine umfassendere Prüfung des Falles zu ermöglichen. Die Anschlussberufung ist ebenfalls ein Mittel, um das Verbot der reformatio in pejus (Verschlechterungsverbot zulasten der berufungsklagenden Partei) zu durchbrechen.
E. 4.4.4 (Synthese und abschliessende Argumente):
Der Zweck der Anschlussberufung (Reaktion der ursprünglich passiven Partei) passt nicht auf die Situation der Hauptberufungsklägerin, die bereits aktiv geworden ist und den Umfang ihrer Anfechtung verbindlich festgelegt hat (vgl. 4.4.1). Ihr nachträglich nochmals eine Reaktionsmöglichkeit in Form einer weiteren Anschlussberufung zu geben, ginge über den Sinn und Zweck der Rechtsnorm hinaus.
Mit der Zulassung einer „Anschlussberufung zur Anschlussberufung“ entstünde die Gefahr einer „Kaskade“ von Anschlussberufungen, bei der jede Partei auf die Erweiterung der Gegenpartei mit einer eigenen Erweiterung reagiert, was zu erheblichen prozessualen Komplikationen und Verzögerungen führen würde und damit ein Widerspruch zur Prozessökonomie darstellt.
Relevante Artikel und relevante Stellen aus dem 3. Kapitel Berufung (StPO Fassung vom 1. August 2023):
Art. 399 Anmeldung der Berufung und Berufungserklärung
…
3 Die Partei, die Berufung angemeldet hat, reicht dem Berufungsgericht innert 20 Tagen seit der Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche Berufungs¬erklärung ein. Sie hat darin anzugeben:
a. ob sie das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anficht;
b. welche Abänderungen des erstinstanzlichen Urteils sie verlangt; und
c. welche Beweisanträge sie stellt.
4 Wer nur Teile des Urteils anficht, hat in der Berufungserklärung verbindlich anzugeben, auf welche der folgenden Teile sich die Berufung beschränkt:
a. den Schuldpunkt, allenfalls bezogen auf einzelne Handlungen;
b. die Bemessung der Strafe;
c. die Anordnung von Massnahmen;
d. den Zivilanspruch oder einzelne Zivilansprüche;
e. …
Art. 400 Vorprüfung
1 Geht aus der Berufungserklärung nicht eindeutig hervor, ob das erstinstanzliche Urteil ganz oder nur in Teilen angefochten wird, so fordert die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Partei auf, ihre Erklärung zu verdeutlichen, und setzt ihr dafür eine Frist.
2 Die Verfahrensleitung übermittelt den anderen Parteien unverzüglich eine Kopie der Berufungserklärung.
3 Die anderen Parteien können innert 20 Tagen seit Empfang der Berufungserklärung schriftlich:
a. Nichteintreten beantragen; der Antrag muss begründet sein;
b. Anschlussberufung erklären.
Art. 401 Anschlussberufung
1 Die Anschlussberufung richtet sich sinngemäss nach Artikel 399 Absätze 3 und 4.
2 Sie ist nicht auf den Umfang der Hauptberufung beschränkt, es sei denn, diese beziehe sich ausschliesslich auf den Zivilpunkt des Urteils.
3 Wird die Berufung zurückgezogen oder wird auf sie nicht eingetreten, so fällt auch die Anschlussberufung dahin.
Art. 404 Umfang der Überprüfung
1 Das Berufungsgericht überprüft das erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten.
2 Es kann zugunsten der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern.