Keine Einstellung des Strafvollzugs für depressiven Rentner

Das Bundesgericht hat sich in einem heute online gestellten Entscheid (1P.299/2006 vom 14.08.2006) mit der Frage der Einstellung der Strafvollzugs zu befassen. Ein heute 80-Jähriger, der im Jahr 2002 wegen mehrfacher qualifizierter Veruntreuung und mehrfacher Urkundenfälschung zu 33 Monaten Zuchthaus verurteilt worden war, bestritt seine Hafterstehungsfähigkeit und belegte dies mit einem Privatgutachten. Gestützt auf ein amtliches Gutachten und ein Ergänzungsgutachten hat die Vorinstanz die Einstellung des Strafvollzugs verneint. Diesen Entscheid hat das Bundesgericht nun gestützt. Juristisch ist der Entscheid kaum zu kritisieren. Die Lektüre ist dennoch schwer erträglich. Hier ein paar Zitate:

Unerheblich ist dabei, ob die Gutachter den Strafantritt trotz der Selbstmordgefahr insgesamt für zumutbar erachtet haben; das ist eine Rechtsfrage, die das Gericht zu entscheiden hat (E. 2.2).

Unabhängig davon wird aus dem angefochtenen Entscheid deutlich, dass das Appellationsgericht die Selbstmorddrohungen des Beschwerdeführers ernst nimmt. Es geht indessen – gestützt auf die Gutachten vom 31. Mai 2005 und 9.Februar 2006 – davon aus, diese Äusserungen unterlägen weitgehend dem freien Willen des Beschwerdeführers (E. 2.3).

Je schwerer Tat und Strafe, umso schwerer fällt – im Vergleich zur Gefahr des Verlustes der körperlichen Integrität – der staatliche Strafanspruch ins Gewicht. Die vorstehenden Überlegungen gelten grundsätzlich auch für den Fall, dass das Leben des Verurteilten durch Selbstmord gefährdet ist. Die Beweisschwierigkeiten sind in dieser Hinsicht allerdings besonders gross. Die Rechtssicherheit verlangt hier eine nochmals erhöhte Zurückhaltung. Es darf nicht dazu kommen, dass die Selbstgefährlichkeit zu einem gängigen letzten Verteidigungsmittel wird, das von rechtskräftig Verurteilten oder ihren Anwälten in Fällen eingesetzt wird, in denen ein Begnadigungsgesuch keine Erfolgsaussichten hat (E. 3.2).

Vorliegend kann offen bleiben, ob die Suizidgefahr die Schwelle erreicht, ab der ein Strafaufschub in Betracht gezogen werden kann. Der Beschwerdeführer übersieht, dass die Erheblichkeit der Lebensgefährdung in diesem Fall nicht ausreicht, um eine Einstellung des Strafvollzugs zu erlangen. Vielmehr ist zusätzlich eine Abwägung vorzunehmen, bei der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs dem gegenteiligen Interesse des Verurteilten gegenüberzustellen ist (E. 3.3).

Das Electronic Monitoring fällt beim Beschwerdeführer offensichtlich nicht von Anfang an in Betracht, so dass für die Beurteilung eines Strafantritts im heutigen Zeitpunkt nicht weiter darauf einzugehen ist (E.3.4.2).

Hier verfügt der Beschwerdeführer über eine weitgehende Urteilsfähigkeit bezüglich seiner Selbstgefährdungsproblematik (E. 2.3). Es kann erwartet werden, dass er die Bedeutung der ihm zugesicherten Vollzugserleichterungen erfasst und innerlich von dem in Aussicht gestellten Bilanzsuizid abzurücken vermag. Daher lässt es sich einstweilen vertreten, dass das Appellationsgericht mit Blick auf die Selbstmordgefahr keine Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt verlangt hat (E. 3.4.4).

Während ich diesen Entscheid zitiere läuft bei 10 vor 10 ein Beitrag über die überfüllten Strafanstalten in der Schweiz.