Keine Entschädigung für unnötige Präventivhaft?
Eine Tochter hat gegen ihren Vater Strafantrag wegen Drohung und Beschimpfung gestellt mit der Folge, dass der nicht vorbestrafte Vater wegen Ausführungsgefahr in Präventivhaft genommen wurde. Das sogleich in Auftrag gegebene und nach wenigen Wochen vorgelegte Gutachten konnte keine Ausführungsgefahr erkennen, weshalb der Vater sofort aus der Haft entlassen wurde. Gleichzeitig hat die Tochter den Strafantrag zurückgezogen, womit das Strafverfahren einzustellen war. Die Kosten wurden zur Hälfte dem Vater auferlegt, dem zudem jede Entschädigung oder Genugtuung verweigert wurde.
Das Bundesgericht schützt diesen Kostenentscheid (BGer 6B_990/2013 vom 10.06.2014) und scheint dabei die Unterscheidung zwischen rechtswidriger und ungerechtfertigter Haft zu verkennen. Das zivilrechtlich vorwerfbare Verhalten lag – gemäss Bundesgericht bundesrechtskonform – in der Persönlichkeitsverletzung, welche mit den Drohungen des Vaters verbunden waren:
Der Beschwerdeführer macht geltend, der durch ihn verursachten Störung des seelischen Wohlbefindens seiner Tochter fehle es an der nötigen Intensität, um als Persönlichkeitsverletzung qualifiziert zu werden. Dabei stützt er sich auf das Bundesgerichtsurteil 1B_21/2012. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall hatte der vermeintlich Geschädigte in jenem Verfahren die Aussagen des dortigen Beschuldigten allerdings gar nicht erst als Bedrohung wahrgenommen. Deshalb durfte nicht davon ausgegangen werden, sein seelisches Wohlbefinden sei massiv gestört worden (Urteil 1B_21/2012 vom 27. März 2012 E. 2.5). Die beiden Fälle sind nicht vergleichbar und der Argumentation des Beschwerdeführers kann nicht gefolgt werden. Im Übrigen legt er nicht konkret dar und ist nicht ersichtlich, inwiefern die vorinstanzliche Subsumtion des Sachverhalts unter eine Persönlichkeitsverletzung nach Art. 28 ZGB unzutreffend sein bzw. der Kostenauflage allenfalls ein strafrechtlicher Vorwurf zugrunde liegen soll. Die Rüge ist unbegründet (E. 1.4).
Damit war ja eigentlich auch die Frage nach der Entschädigung präjudiziert. Das Bundesgericht holt aber weiter aus und verfällt prompt in Widersprüche:
Im Zeitpunkt der Festnahme und Haftanordnung war noch keine genaue Risikoeinschätzung möglich. Ein entsprechendes Gutachten musste erst erstellt werden. Da die Androhung einer sehr schweren Straftat im Raum stand, mussten keine allzu hohen Anforderungen an die Konkretheit der Ausführungsgefahr gestellt werden. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Vorkommnisse, anlässlich welcher die Tochter des Beschwerdeführers ihre Angst vor ihm geäussert hatte, sowie angesichts der Gründe für die psychiatrische Behandlung, in der sich dieser befand (u.a. wegen einer somatoformen Schmerzstörung, die darauf hinweise, dass emotionale Konflikte und psychosoziale Probleme bestünden, sowie wegen einer Persönlichkeitsstörung, die nicht klar zugeordnet werden könne), war sein Verhalten für die Strafverfolgungsbehörden im Zeitpunkt der Haftanordnung unberechenbar. Es bestand Abklärungsbedarf, während dessen Dauer die Sicherheit der Bedrohten nicht anders gewährleistet werden konnte (vgl. E. 2.4.3), als durch eine vorübergehende Inhaftierung des Beschwerdeführers (E. 2.4.1, Hervorhebungen durch mich).
Die Haftanordnung ist wohl eher durch einen Richter denn durch eine Strafverfolgungsbehörde erfolgt. Aber das ist ein Detail. Wichtiger ist, dass das Bundesgericht sich bemüssigt fühlt zu betonen, dass sich die Haft “lediglich im Nachhinein als ungerechtfertigt erwiesen” hat, weshalb der Entschädigungsanspruch nach Art. 429 statt nach Art. 431 StPO zu beurteilen sei (was im Übrigen nur auf den ersten Blick zutrifft):
Indem er sofort aus der Haft entlassen wurde, sobald der psychiatrische Gutachter eine Ausführungsgefahr verneinte, blieb die Präventivhaft auch in ihrer Dauer verhältnismässig. Sie war demzufolge nicht rechtswidrig, sondern hat sich lediglich im Nachhinein als ungerechtfertigt erwiesen, weil das Verfahren gegen den Beschwerdeführer eingestellt wurde. Sein Entschädigungs- bzw. Genugtuungsanspruch beurteilt sich folglich nach Art. 429 StPO (E. 2.4.5).
Das Wesen der ungerechtfertigten Haft liegt ja nun aber gerade darin, dass sie sich erst im Nachhinein als unrechtmässig herausstellt, denn sonst wäre die Haft ja rechtswidrig gewesen, was der Beschwerdeführer nicht behauptet hat. Wenn dann aber schon nach Art. 429 StPO zu prüfen ist, dann könnte man ja einfach analog dem Kostenentscheid den Entschädigungsanspruch halbieren. Das Bundesgericht entscheidet sich aber für eine klare Lösung:
Dass die Voraussetzungen für die (teilweise) Auferlegung der Verfahrenskosten erfüllt waren, wurde bereits dargelegt (vgl. vorne E. 1.4). Der Beschwerdeführer hat das Verfahren (insbesondere wegen Drohung, die den Grund für die Inhaftierung bildete) schuldhaft verursacht. Demnach durfte ihm die Ausrichtung einer Genugtuung für die erstandene Haft verweigert werden (E. 2.5.2).
Wenn das keine Verletzung von “in dubio” ist, dann weiss ich nichts mehr. Dabei wäre es so einfach gewesen. Das Bundesgericht hätte doch einfach auch hier mit der zivilrechtlichen Persönlichkeitsverletzung argumentieren können und hätte nicht die strafrechtliche Drohung heranziehen müssen.
Vielleicht ist ja der Entscheid ja im Ergebnis nicht falsch (die Beschwerde wurde jedenfalls als zum Vornherein aussichtslos qualifiziert), aber begründet ist er nicht gerade überzeugend. Ein Fall für Strassburg?
Ein Urteil aus Strassburg wäre bestimmt interessant.