Keine Rückzugsfiktion bei Vorladungen ins Ausland

Das Bundesgericht bestätigt in einem bemerkenswerten Entscheid (BGer 6B_1456/2021 vom 07.11.2022, Fünferbesetzung) seine Rechtsprechung zur Rückzugsfiktion nach BGE 140 IV 86.

In der Sache ging es um eine geringfügigen Geschwindigkeitsübertretung (4 km/h, Busse von CHF 40.00) im Kanton Graubünden. Das Bundesgericht lässt die Rückzugsfiktion nicht greifen und stellt das Verfahren direkt ein, nachdem es die Verjährung während des bundesgerichtlichen Verfahrens mit Schriftenwechsel eingetreten liess.

Damit verhalf das Bundesgericht der Verteidigungstaktik zum Durchbruch. Der Beschuldigte bestritt nämlich zunächst, den fraglichen Wagen selbst gelenkt zu haben. Später – nach Strafbefehl, Einsprache und einer ersten Vorladung zur Hauptverhandlung – nannte er den verantwortlichen Lenker, den die Strafbehörden aber nie ausfindig machen konnten. Zur Verhandlung erschien der Beschuldigte, der Im Ausland (das Bundesgericht hat das Land – aus welchem Grund auch immer – anonymisiert) vorgeladen wurde, nicht, worauf das erstinstanzliche Gericht die Rückzugsfiktion greifen liess, die im Beschwerdeverfahren bestätigt wurde. Dagegen wehrte sich der Beschuldigte vor Bundesgericht mit dem Argument, er wohne im Ausland und müsse einer schweizerischen Vorladung nicht folgen, womit die Rückzugsfiktion nicht greife.

Das Bundesgericht bestätigt die Auffassung des Beschwerdeführers und stellt das Verfahren wegen Eintritts der Verjährung gleich selbst ein. Eingetreten ist die Verjährung übrigens während des Verfahrens vor Bundesgericht, wo der Beschwerdeführer im Rahmen des Schriftenwechsels erfolgreich die Verjährungseinrede (sic!) erhob.

Hier das Argument des Bundesgerichts gegen die Rückzugsfiktion:

Der Beschwerdeführer rügt indes zu Recht, dass er nicht verpflichtet war, einer schweizerischen Vorladung zu einer Hauptverhandlung in der Schweiz Folge zu leisten.  

Die Erstinstanz hat die dem in V. wohnhaften Beschwerdeführer zugestellte Vorladung mit Hinweis auf Art. 356 Abs. 4 StPO mit der Androhung versehen, dass die Einsprache als zurückgezogen gelte, wenn er der Hauptverhandlung fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt. Die Verknüpfung der Vorladung mit einer solchen Androhung stellt eine Zwangsmassnahme dar. Gemäss einhelliger Lehre und bundesgerichtlicher Rechtsprechung beschränkt sich die schweizerische Staatsgewalt auf das hiesige Staatsgebiet. Die schweizerischen Strafbehörden dürfen daher unter den gesetzlichen Voraussetzungen Zwang auf den sich hier befindenden Beschuldigten ausüben, nicht dagegen auf den sich im Ausland befindenden. Tun sie dies, verletzen sie die Souveränität des ausländischen Staates (BGE 146 IV 36 E. 2.2; 133 I 234 E. 2.5.1 S. 239; HANS SCHULTZ, Male captus bene iudicatus?, SJIR 24/1967 S. 70 und 77 f.). Was die sich dort aufhaltenden Personen zu tun oder zu unterlassen haben, bestimmt jener Staat. Darin dürfen sich die schweizerischen Behörden nicht einmischen. Wollen sie auf den sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten zugreifen, dürfen sie dies nur unter Mitwirkung und Zustimmung des ausländischen Staates tun. Sie müssen diesen also um Rechtshilfe ersuchen (SCHULTZ, a.a.O.). 

Vorladungen dürfen die schweizerischen Behörden dem sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten mithin zwar zukommen lassen. Zwangsandrohungen dürfen sie damit aber nicht verbinden. Die Vorladungen stellen damit, wie im Schrifttum zutreffend ausgeführt wird, in der Sache Einladungen dar, denen der Beschuldigte folgen kann oder – ohne Nachteil – nicht. Zwang androhen dürfen die schweizerischen Behörden dem im Ausland ansässigen Beschuldigten, wenn er sich, anders als im vorliegenden Fall, freiwillig in die Schweiz begibt und ihm die Vorladung hier zugestellt werden kann (BGE 140 IV 86 E. 2 mit Hinweisen). Darf der Beschwerdeführer demnach wegen seines Fernbleibens an der Hauptverhandlung keine rechtlichen oder tatsächlichen Nachteile erleiden, kann die Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO nicht zur Anwendung gelangen. Richtigerweise hätte die Erstinstanz ein Abwesenheitsverfahren einleiten müssen (E. 2.2.3).

Und die Verjährung:

Der Eintritt der Verfolgungsverjährung ist von Amtes wegen in allen Stadien des Verfahrens zu beachten (MATTHIAS ZURBRÜGG, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019 N. 61 zu Vor Art. 97-101 StGB, GILBERT KOLLY, in: Commentaire Romand, Code pénal I, N. 77 ff. zu Art. 97 StGB).  

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist eine Übertretung. Mit Bezug auf diese verjähren die Strafverfolgung und die Strafe in drei Jahren (Art. 109 StGB). Die Verfolgungsverjährung beginnt zufolge Art. 98 lit. a StGB mit dem Tag, an dem der Täter die strafbare Tätigkeit ausführt. Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen, so tritt die Verjährung nicht mehr ein (Art. 97 Abs. 3 StGB). Dies gilt gemäss Art. 104 StGB auch für Übertretungen, zumal die diesbezüglichen Bestimmungen keine abweichenden Anordnungen enthalten. 

Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts kommt einem Entscheid im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB verjährungsbeendende Qualität zu, wenn in einem kontradiktorischen Verfahren über die Straftat entschieden wird (BGE 147 IV 274 E. 1.7 mit Hinweis). Dazu zählen verurteilende und freisprechende Erkenntnisse. Denkbar ist auch ein Prozessentscheid, z.B. eine Einstellungsverfügung, wenn erstinstanzlich in einem kontradiktorischen Verfahren festgestellt wird, dass eine Strafbarkeitsvoraussetzung nicht erfüllt ist, etwa ein Strafantrag fehlt. Diese Prozessentscheide betreffen indessen die Straftat als solche. Demgegenüber wird im Fall einer erstinstanzlichen Abschreibungsverfügung in Anwendung der Rückzugsfiktion nicht in einem kontradiktorischen Verfahren über die Straftat entschieden, sondern lediglich die Säumnis der beschuldigten Person sanktioniert. Es wird ein Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl fingiert und der Strafbefehl erwächst in Rechtskraft. Eine kontradiktorische Beurteilung der Straftat findet nicht statt. Mit einer allfälligen Aufhebung der Abschreibungsverfügung lebt die Einsprache gegen den Strafbefehl wieder auf. Wird somit, wie vorliegend, gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben, so fällt dieser dahin und es liegt kein die Verjährung beendender erstinstanzlicher Entscheid im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB vor (BGE 142 IV 11 E. 1.2.2; 147 IV 274 E. 1.5). Dies deckt sich im Übrigen mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts im Zusammenhang mit Abwesenheitsurteilen (vgl. BGE 146 IV 59). Das Abwesenheitsurteil knüpft ebenfalls an die Säumnis der beschuldigten Person an. Erwirkt diese in der Folge eine erstinstanzliche Neubeurteilung, fällt das erste erstinstanzliche Urteil dahin und zeitigt keine verjährungsbeendende Wirkung. Dies muss umso mehr gelten für ein infolge der Rückzugsfiktion erstinstanzlich abgeschriebenes Verfahren. Anders als bei Abwesenheitsurteilen fand in einem solchen Fall kein kontradiktorisches Verfahren statt (E. 3.1).

Und in welches Land wurde die Vorladung zugestellt? Und wieso Fünferbesetzung?