Keine Verfahrensprotokolle im Aargau?
Eigentlich berichte ich nicht über Verfahren, an denen ich beteiligt bin, aber das hier will ich meinen Leserinnen und Lesern doch nicht vorenthalten:
In einem Strafverfahren hatte ich wiederholt Einsicht in das Verfahrensprotokoll nach Art. 100 Abs. 1 lit. a StPO i.V.m. Art. 77 StPO beantragt und nun folgende “Antwort” erhalten:
Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt
Die Staatsanwaltschaft kann Ihnen kein Verfahrensprotokoll zustellen, da solche Verfahrensprotokolle im Kanton Aargau nicht geführt werden.
Freundliche Grüsse
Abgesehen davon, dass das m.W. nicht stimmt, erscheint mir die Aussage bereits angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift als bemerkenswert. Die Verfahrensprotokolle sind nicht nur für die Verteidigung, sondern hoffentlich auch für das Gericht absolut unverzichtbar.
Im Kanton Basel-Landschaft ist das nicht anders.
Wäre interessant zu wissen, welche Staatsanwaltschaft im Aargau so vorgegangen ist. Leider sind es meistens dieselben, die sich nicht an gesetzliche Vorschriften halten und den Grundsatz der Wahrheitsfindung mit allen erdenklichen Mitteln versuchen zu unterdrücken.
Nun ja, wenn wir von der verteidigerseits immer wieder postulierten prozessualen Wahrheit sprechen: diese hat mit der materiellen Wahrheitsfindung… äh, lassen Sie mich mal überlegen… ach, ja, so ziemlich gar nichts zu tun. Also bitte! Und darüber hinaus: ausser in einfachen Fällen gibt’s ja ein Aktenverzeichnis und man sollte eigentlich meinen, dass der Verteidigung damit die Arbeit genug erleichtert wird. Wozu Sie zusätzlich auch noch ein Verfahrensprotokoll benötigen, erschliesst sich mir nicht. Aber wenn die StPO schon sowas vorsieht, dann wollen wir das natürlich auch prophylaktisch überall einfordern, nicht wahr?
Blödsinn. Die Staatsanwaltschaften, auch im Kanton Aargau, sind per definitionem die objektivsten Behörden die es gibt und sie versuchen keinesfalls die Wahrheitsfindung zu unterdrücken. Was hätten sie denn davon? Wenn es entlastendes Material gibt, umso besser, dann lässt sich ein vielleicht sehr kompliziertes und umfangreiches Verfahren ganz einfach einstellen. Wenn nicht, ja dann muss man den Beschuldigten und Strafverteidigern auch nicht wirklich immer auf die Sprünge helfen oder dergleichen, indem man ein “Verfahrensprotokoll” erstellt, was auch immer das bringen mag….
Was genau für ein protokoll möchten Sie haben? Eines im sinne eines verlaufsberichts analog zu stationären medizinischen behandlungen? Das ist m. E. Nicht der sinn von art. 77 stpo. Dort geht es um protokolle zu mündlichen verhandlungen. Ich gehe mal davon aus, dass hierzu auch im kanton aargau ein protokoll geführt wird und man einsicht in ein solches verlangen kann.
@Pro Tokoll: Es geht auch um mündliche Verhandlungen, aber eben nicht nur. Ich will nur die gesetzlich vorgesehene Transparenz und dabei heute gar nicht so weit gehen, von den Behörden dieselben detaillierten Leistungsverzeichnisse zu fordern, die sie von den Anwälten verlangen. Es würde auch reichen, die ohnehin geführten Journale in die Akten zu integrieren.
Abgesehen davon, dass art. 77 stpo m. E. Dafür nicht die gesetzliche grundlage ist, sehe ich den sinn und praktischen nutzen nicht. Übrige verfahrenshandlungen, wie gutachtensauftrag, editionen etc. Ergehen ohnehin schriftlich und sind so dokumentiert. Zu telefonaten u. Ä. werden aktennotizen erstellt (ausser bei der ba
😉 ). Erwarten Sie etwas in der art: freitag, xx. Juni: aktenstudium. Montag, xx. Juni: bleistift gespitzt. Samstag, xx. Juli: kaffee geholt (pikett)? Dafür sehe ich, wie gesagt, weder den nutzen noch die gesetzliche grundlage.
@Pro Tokoll: Wenn ich nicht immer wieder solche unsinnigen Protokolle trotz angeblich fehlender gesetzlicher Grundlage sehen würde, bisweilen auch im Aargau, hätte ich das Gefühl, ich sei einfach zu blöd, um die StPO lesen und verstehen zu können.
Haben Sie denn auch mal explizit nach dem Verfahrensjournal gefragt?
Nein, ich habe nach dem Verfahrensprotokoll gefragt. Vielleicht müsste ich noch nach dem “Verfahrensjournal” fragen oder soll ich wie im Kanton Solothurn vielleicht lieber den Begriff “Journal” verwenden?
Solothurn und Aargau verwenden meines Wissens die gleiche IT Applikation (zumindest auf Gerichtsstufe bin ich mir sicher). Die Funktion zur chronologischen Auflistung aller Verfahrensschritte heisst dort drin Journal, ist aber eigentlich nichts anderes als das Verfahrensprotokoll nach Art. 77 StPO.
Wenn im Aargau Anklage erhoben wird, befindet sich normalerweise so ein Dokument bei den Akten.
Genau so ist es. Meistens.
@kj: Ach ja, klar! Dann würde wohl so intelligentes Zeug wie “Vorbesprechung Einvernahme mit Klient – 2.5 Std.”, “Einvernahme – 1.25 Std.”, “Nachbesprechung Einvernahme mit Klient – 2.5 Std.” etc. stehen! Ganz ehrlich, ich hoffe, Sie haben Ihre Bemerkung als Witz gemeint!!! Was verfahrensrelevant ist, ergibt sich aus den Akten, und der Rest braucht Sie nicht zu interessieren!!! Ihre Überlegungen ergeben sich schließlich auch nicht aus Ihrer Deservitenkarte!
@Erna W.: Ihre Beiträge werden hier leider kaum gelesen und drohen wirkungslos zu verpuffen. Ich lade Sie ein, einen Beitrag in einer Fachzeitschrift zu publizieren. Die Ausrufezeichen müssten Sie dann aber weglassen, ok?
@kj: Fühlen Sie sich irgendwie gekränkt dadurch, dass sich die Mehrheit der Kommentare, so auch jener von Erna W., gegen Ihre kleinliche Ansicht was Verfahrensprotokolle anbelangt richten oder was bitteschön ist denn Ihr Problem, dass Sie einen solchen Kommentar gegen Erna W. verfassen müssen? Sie als Administrator dieser Seite haben es doch nicht nötig sich angegriffen zu fühlen. Oder ist es in dem Fall halt einfach anders, weil es ausnahmsweise Ihren eigenen Fall betrifft? Man darf gespannt sein auf Ihre Antwort…
Da bin ich absolut der gleichen Meinung. Mir ist hier auch nicht ganz klar, was für Protokolle Herr Jeker denn meint. Protokolle von Einvernahmen oder von was bitteschön? Staatsanwaltschaften führen doch kein Journal über ihre Verfahrensschritte oder erstellen einen Bericht dazu. Der “Bericht” ist dann schliesslich das Endprodukt, also die Anklage, der Strafbefehl oder irgendeine Verfügung. Man kann ihm höchstens ein Inhaltsverzeichnis der Verfahrensschritte aus dem System schicken, was auch immer das bringen soll.
Also ich habe zunehmend den eindruck, dass das ein phantom-protokoll ist, das Sie da jagen ;-).
Und auch das werde ich nie herausfinden.
Sie könnten die Antwort der Staatsanwaltschaft an das Bundesamt für Justiz weiterleiten und dieses um eine Stellungnahme ersuchen, ob es zulässig ist, dass ein Kanton keine Verfahrensprotokolle führt. fragen, Gibt es im Strafrecht nicht das Mittel einer Aufsichtsbeschwerde an die Aufsichtsbehörde der Staatsanwaltschaft? Im Verwaltungsrecht und im Sozialversicherunsrecht gibt es das (teilweise nicht im Gesetz geregelte) Mittel der Aufsichtsbeschwerde. Dort nimmt man es manchmal mit der lästigen Aktenführungspflicht und den Anforderungen an diese auch nicht so genau.
Guten Abend Herr Jeker,
Sollte man in diesem Zusammenhang nicht zum Beispiel das Urteil des BGer 6B_893/2015 vom 14.06.2016 konsultieren, zu welchem Sie ebenfalls einen Betrag geschrieben haben, wenn auch mit Fokus auf das Einvernahmeprotokoll?
”
1.4.3. Das Protokoll erfüllt im Strafprozess drei verschiedene Funktionen. Es hält zum einen die mündlichen Aussagen der Verfahrensbeteiligten fest und dient insofern als Grundlage für die Feststellung des Sachverhalts. Zum andern gibt es Auskunft über die Einhaltung der Verfahrensvorschriften und garantiert insofern ein rechtsstaatlich korrektes Verfahren. Schliesslich versetzt es das Gericht und allfällige Rechtsmittelinstanzen in die Lage, die inhaltliche Richtigkeit und verfahrensmässige Ordnungsmässigkeit einer angefochtenen Entscheidung zu überprüfen (Urteil 6B_492/2012 vom 22. Februar 2013 E. 1.4 mit Hinweisen; GIORGIO BOMIO, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 3 Vor Art. 76-79 StPO; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse, 2012, N. 164 zu Art. 76 ff. StPO).
…
Während Art. 78 Abs. 5 StPO den Inhalt des Einvernahmeprotokolls beschlägt und die korrekte Niederschrift unter anderem der getätigten Aussagen sicherstellt, betrifft Art. 77 lit. b StPO nicht den Inhalt des Protokolls an sich, sondern dient der Erfassung der prozessualen Rahmenumstände der Einvernahme (ähnlich PITTELOUD, a.a.O., N. 163 zu Art. 76 ff. StPO). Damit schützt Art. 77 lit. b StPO gegenüber Art. 78 Abs. 5 StPO eher untergeordnete Interessen der Verfahrensbeteiligten. Hierfür spricht insbesondere, dass gemäss Art. 77 lit. b StPO auch die weiteren anwesenden Personen namentlich aufzuführen sind. Es ist nicht ersichtlich, dass grundlegende Verfahrensrechte verletzt werden könnten, indem eine einer Verfahrenshandlung beiwohnende Person im Protokoll nicht erwähnt wird. Da Art. 77 lit. b StPO für die Wahrung der geschützten Interessen der betroffenen Person keine derart erhebliche Bedeutung hat, dass die Bestimmung ihr Ziel nur erreichen kann, wenn bei ihrer Nichtbeachtung das Protokoll unverwertbar ist, stellt die Norm eine Ordnungsvorschrift dar (a.M.: BOMIO, a.a.O., N. 3 zu Art. 77 StPO; wohl auch NÄPFLI, a.a.O., N. 12 zu Art. 76 StPO). Das zweite Einvernahmeprotokoll vom 3. Juli 2012 ist trotz Verletzung von Art. 77 lit. b StPO verwertbar. ”
Wenn die Staatsanwaltschaft keinen einzelnen Verfahrensprotokoll im Sinne von Art. 77 StPO zur Verfügung stellen kann, so müsste man sich allenfalls die Frage stellen, ob die in lit. a bis lit. h aufgelisteten Punkte anderweitig in den zur Verfügung gestellten Unterlagen dokumentiert sind bzw. sich eruieren lassen. Das oben erwähnte Urteil indiziert für mich, dass für jede lit. vom Art. 77 StPO einzeln zu prüfen ist, ob die darin enthaltenen Vorgaben hinsichtlich der Protokollierung blosse Ordnungsvorschriften darstellen oder aber der Wahrung der grundlegenden Verfahrensrechte dienen.
Der Botschaft zur StPO entnehme ich, dass im Vordergrund die “Dokumentationspflicht” also solche und die Vereinheitlichung der Dokumentationsvorgaben steht und nicht zwangsläufig die Pflicht die in Art. 77 StPO (namentlich) aufgelisteten Punkte in EINEM Verfahrensprotokoll/Journal in konzentrierter Art und Weise festzuhalten.
Vielleicht ist auch deshalb im Art. 77 StPO wie auch Art. 100 Abs. 1 lit. a von VerfahrensprotokollEN die Rede und nicht von EINEM Verfahrensprotokoll.
Es genügt daher meines Erachtens, wenn zu jeder einzelnen Handlung ein separates Schriftstück vorliegt, welches alle wichtigen Vorgänge dokumentiert. In diesem Sinne verstehe ich auch die Ausführungen des Bundesgerichts im oben zitierten Urteil, wenn es für die Beurteilung der Gültigkeit/Verwertbarkeit eines Einvernahmeprotokols sowohl die Vorgaben in Art. 78 wie auch Art. 77 StPO einbezieht und nicht die beiden Artikel isoliert betrachtet.
Es wäre zweifellos sehr interessant, wie die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau als Aufsichtsbehörde wie auch das Bundesamt für Justiz die Verfahrensprotokollvorgabe in Art. 77 StPO interpretieren.
mfg
rf
@rf: man kann auch einfach den Gesetzestext lesen. Was mich aber wirklich wundert ist, dass die fraglichen Protokolle bzw. Journale oder wie immer man sie nennen will, ja durchaus geführt werden. Was ich fordere ist die Selbstverständlichkeit, dass sie den Akten einverleibt werden, welche den Parteien und Gerichten zur Verfügung stehen.
Wenn es doch nur so einfach wäre, dass der Gesetzestext an sich einem schon alles verrät, ja dann bräuchte es kaum so viele Juristen, nicht wahr?
Was ist denn der praktische Nutzen eines solchen Verfahrensprotokolls für die Verteidigung? Wenn man Akteneinsicht erhält, welche Sie als Verteidiger ja unbegrenzt oft beantragen dürfen, erhält man ja bereits absolut alle verfahrensrelevanten Dokumente zugestellt oder sehe ich das falsch? Eine Auflistung der Verfahrensschritte ist doch dann wirklich nicht mehr nötig und liefert auch keinen Mehrwert oder was erhoffen Sie sich vom Verfahrensprotokoll, dass da irgendwelche heimlich entfernte Verfahrensschritte zu Tage treten?
Sie selbst echauffieren sich ja oftmals, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte zu langsam arbeiten. Tja, dank Anwälten die sich über belanglose Themen wie eben dieses auslassen müssen, wird sich das wohl auch nicht ändern….
Demnach entscheidet die Staatsanwaltschaft, was für die Verteidigung «verfahrensrelevant» sein soll? ?
@Martin Steiger:
Nein natürlich nicht. Die Verteidigung erhält dann alle Dokumente, welche auch die Staatsanwaltschaft hat. Nicht mehr und nicht weniger.
Auf Anregung dieses Blogs hat die SRF Regionalredaktion Aargau Solothurn eine Anfrage an die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gerichtet. Auf eine Berichterstattung verzichten wir aktuell aus zeitlichen und personellen Gründen.
Aber die Antwort – paraphrasiert – soll hier als Kommentar ergänzt sein:
Die Staatsanwaltschaft spricht von einem Missverständnis. Es werde “nicht aktiv” Protokoll geführt. Die Geschäftskontrolle führe hingegen automatisiert ein Verfahrensprotokoll im Hintergrund (chronologische Auflistung der Verfahrensschritte), welches jederzeit verfügbar gemacht werden könne und damit den Anforderungen der StPO entspreche. Es werde aber “in der Regel” erst mit der Anklageerhebung erstellt und ausgedruckt.
Dies einfach zur Kenntnisnahme für die hier interessierten Kreise.
Immerhin kenne ich nun das Wort «Deservitenkarte» … ?