Konfrontationsanspruch: Neuer Leitentscheid des EGMR
Der EGMR (Grosse Kammer) hat einen weiteren wichtigen Entscheid zum Konfrontationsanspruch nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK erlassen (EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 vom 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery v. U.K.). Der Bearbeiter von HRRS fasst den Entscheid in folgende Leitsätze:
1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf einer Aussage beruht, die von einem Zeugen gemacht worden ist, hinsichtlich derer der Angeklagte unverschuldet weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in der Regel in einem Umfang beschränkt, der mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist. Anderes kann aber – auch in Abhängigkeit von den Besonderheiten des jeweiligen nationalen Strafverfahrenssystems – im Einzelfall bei der anzustellenden Gesamtprüfung der Fairness gelten, wenn hinreichende kompensierende Faktoren vorliegen, die insbesondere eine faire und angemessene Beurteilung des Beweiswerts der Aussage ermöglichen müssen. Die Prüfung ob derartige prozessuale Ausgleichsmaßnahmen in einem Verfahren tatsächlich vorlagen, nimmt der EGMR mit der größtmöglichen Gründlichkeit vor.
2. Eine Verletzung des Art. 6 III lit. d, I 1 EMRK ist nicht nur dann möglich, wenn eine unkonfrontierte Aussage das einzige oder das entscheidende Beweismittel war. Eine Verletzung kann auch dann anzunehmen sein, wenn kein überzeugender Grund für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts bestand. Ob eine Einschränkung durch überzeugende Gründe im Einzelfall gerechtfertigt war, ist vorrangig zu prüfen. Eine vollständige Verwehrung des Konfrontationsrechts muss hierbei gegenüber milderen Einschränkungen als ultima ratio behandelt werden.
3. Einschränkungen des Art. 6 III lit. d, I 1 EMRK können aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt sein. Sie kommen insbesondere in Betracht, wenn ein Zeuge verstorben ist. Auch die tatsächlich vorhandene Furcht eines lebenden Zeugen kann einen Grund darstellen. Hier ist jedoch zwischen einer allgemeinen Furcht und einer solchen zu unterscheiden, die dem Angeklagten zurechenbar ist. In letzterem Fall kann sich der Angeklagte nicht mehr auf Art. 6 III lit. d EMRK berufen. Es genügt jedoch nicht nur eine rein subjektiv begründete Furcht.
4. Die entscheidende Bedeutung einer Zeugenaussage ist nicht schon dann anzunehmen, wenn das Urteil auf ihr beruht. Eine entscheidende Bedeutung ist für Beweismittel anzunehmen, die für den Ausgang des Verfahrens absehbar oder nach dem vorliegenden Urteil besonders maßgeblich sind. Diese Prüfung ist auch von den vorhandenen weiteren Beweismitteln und ihrem Beweiswert abhängig.
5. Die Regel, dass sich Verurteilungen nicht allein oder in einem entscheidenden Ausmaß auf unkonfrontierte Zeugenaussagen stützen dürfen, erklärt sich insbesondere daraus, dass mit einer größeren Bedeutung des Beweismittels, das von Einschränkungen der Verteidigungsrechte betroffen ist, auch die Gefahr einer insgesamt im Verfahren eintretenden Unfairness wächst. Die Erfahrung zeigt, dass die Überzeugungskraft eines Beweismittels nur in Abhängigkeit von den Möglichkeiten zu seiner kritischen Überprüfung besteht. Zudem darf dem Angeklagten nicht das Recht entzogen werden, die gegen ihn erhobene Anklage effektiv zu prüfen und sich gegen diese zu verteidigen. Der Angeklagte muss effektiv am Verfahren teilhaben können.
6. Die Frage, ob ein Verfahren fair war, hängt nicht allein davon ab, ob die vorgelegten Beweise prima facie verlässlich erscheinen.
7. Zur Beurteilung in zwei Einzelfällen, in denen der EGMR in einem ersten Fall (Al-Khawaja) die Verwertung der Aussage einer mittlerweile verstorbenen unkonfrontierten Augenzeugin unter Rückgriff auf ihre Bestätigung durch weitere Beweismittel gestattete, und in einem zweiten Fall (Tahery) die Verwertung der Aussage eines wegen seiner starken Furcht unkonfrontierten Augenzeugen trotz der Belehrung der jury über eine gebotene vorsichtige Beweiswürdigung als Verletzung einstufte.