Konfrontationsanspruch revisited?
In einem aktuellen Urteil des Bundesgerichts (BGer 6B_517/2022 vom 07.12.2022) kann man nachlesen, dass der Konfrontationsanspruch nicht tangiert wird, wenn der Belastungszeuge (hier ein Mitbeschuldigter mit Aussageverweigerungsrecht) bei der Konfrontationseinvernahme die Aussage verweigert:
Zunächst schadet es, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, nicht, dass ihn der Mitbeschuldigte 2 in der Konfrontationseinvernahme nicht neuerlich ausdrücklich belastet hat. Denn dieser durfte die Aussage rechtmässig verweigern, sodass dadurch das Konfrontationsrecht nicht tangiert ist (oben E. 2.1.1). Dies gilt umso mehr, als der Beschwerdeführer zu den belastenden Erklärungen Stellung nehmen und diese als unzutreffend ausweisen konnte. Er bringt indes nichts vor, was darauf schliessen liesse, dass ihn der Mitbeschuldigte 2 zu Unrecht belastet hätte. Zudem hat die Vorinstanz die belastenden Erklärungen sorgfältig geprüft und es lag nicht in der Verantwortung einer Behörde, dass der Mitbeschuldigte 2 in der Konfrontationseinvernahme keine Aussagen zu weiteren Tatverdächtigen machte (E. 2.3, Hervorhebungen durch mich).
Im selben Entscheid wird die Theorie dazu wie folgt zusammengefasst:
Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO). Dazu zählt das Recht, Belastungszeugen zu befragen (Art. 147 Abs. 1 StPO; Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK). Dieser Anspruch ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn die beschuldigte Person wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Damit der Anspruch auf Konfrontation gewahrt ist, muss die beschuldigte Person namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen zu können. Die Ausübung des Fragerechts setzt voraus, dass sich die befragte Person an der Konfrontationseinvernahme inhaltlich nochmals zur Sache äussert. Dem Anspruch gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK kommt grundsätzlich absoluter Charakter zu (BGE 140 IV 172 E. 1.3 und E. 1.5; 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; Urteile 6B_315/2020 vom 18. Mai 2022 E. 3.3; 6B_570/2019 vom 23. September 2019 E. 3.3; je mit Hinweisen) [E. 2.1.1].
Soweit so klar (“grundsätzlich absoluter Charakter”). Dann kommen aber sogleich ein paar Relativierungen:
Von einer direkten Konfrontation der beschuldigten Person mit dem Belastungszeugen oder auf dessen ergänzende Befragung kann nur unter besonderen Umständen abgesehen werden, wenn eine persönliche Konfrontation nicht möglich oder eine Beschränkung des Konfrontationsrechts dringend notwendig ist. Die Fragen an den Belastungszeugen dürfen auch nicht im Rahmen einer antizipierten Beweiswürdigung für entbehrlich erklärt werden (BGE 129 I 151 E. 4.3). Die ausgebliebene Konfrontation mit Belastungszeugen verletzt die Garantie aber nicht, wenn diese berechtigterweise das Zeugnis verweigern oder die erneute Befragung nicht möglich ist, weil sie trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar bleiben, dauernd oder für lange Zeit zur Einvernahme unfähig werden oder in der Zwischenzeit verstorben sind. Die Verwertbarkeit der ursprünglichen Aussage erfordert allerdings, dass die beschuldigte Person zu den belastenden Erklärungen hinreichend Stellung nehmen konnte, diese sorgfältig geprüft wurden und ein Schuldspruch sich nicht allein darauf abstützt. Ausserdem darf der Umstand, dass die beschuldigte Person ihre Rechte nicht (rechtzeitig) wahrnehmen konnte, nicht in der Verantwortung der Behörde liegen (BGE 131 I 476 E. 2.2 und 2.3.4 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann sodann ein streitiges Zeugnis von ausschlaggebender Bedeutung ohne Konfrontation mit Belastungszeugen verwertbar sein, wenn ausreichend kompensierende Faktoren gegeben sind, die den Anspruch der angeschuldigten Person auf ein faires Verfahren und die Überprüfung der Verlässlichkeit des Beweismittels gewährleisten (vgl. Urteile des EGMR in Sachen Garofolo gegen Schweiz vom 2. April 2013, Nr. 4380/09; in Sachen Pesukic gegen Schweiz vom 6. Dezember 2012, Nr. 25088/07 sowie in Sachen Al-Khawaja und Tahery gegen Grossbritannien vom 15. Dezember 2011, Nrn. 26766/05 und 22228/06; zum Ganzen: Urteil 6B_173/2022 vom 27. April 2022 E. 1.3.1 mit Hinweisen) [E. 2.1.1, Hervorhebungen durch mich].
Wieso das Bundesgerichts überhaupt all diese Ausführungen zu den Ausnahmen vom Konfrontationsrecht macht, ist nicht ersichtlich, denn verurteilt wurde der Täter offenbar aufgrund einer Indizienkette, die auch ohne die belastende Aussage hielt. Im Einzelnen kann das aus den Erwägungen aber nicht nachgeprüft werden. Diese stellen dann unter Verweis auf den Entscheid der Vorinstanz auf den Grundsatz von “in dubio” ab, der – je nach höchstrichterlichem Spruchkörper – einmal als Beweiswürdigungs- und einmal als Entscheidregel angewendet wird.
Mit Deinen letzten beiden Kommentierungen bewegt sich das Bundesgericht offenbar auf den Absolutismus zu. Freuen wir uns auf die daran anschliessende Aufklärung, damit die historischen Vorgaben eingehalten werden.
Alles Gute zum Jahreswechsel und einmal herzlichen Dank für Deine grosse Arbeit für uns Alle.
Kollegiale Grüsse
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist weder neu noch falsch. Praktisch identische Ausführungen fanden sich u.a. in den Urteilen 6B_125/2012 vom 28.6.12, E. 3.3.1,, 6B_1219/2019 vom 24.04.20, E. 2.2 und 6B_173/2022 vom 27.04.22, E. 1.3.2, 1.4.1.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts (und im Übrigen des EGMR) ist der Konfrontationsanspruch nicht verletzt, wenn der Belastungszeuge berechtigterweise das Zeugnis verweigert, sofern – und das ist der hier entscheidende Punkt, der auch im vorliegenden Urteil erwähnt, aber wenig ausgeführt wird – es nicht die Strafbehörde zu vertreten hat, dass der Konfrontationsanspruch nicht gewährt wurde. Nach früherer Rechtsprechung des Bundesgerichts hat die Strafbehörde nämlich, wenn bei einer ersten Konfrontation der Belastungszeuge die Aussage verweigert, die Strafbehörde weitere Konfrontationen zu versuchen (so im Fall von 6B_1219/2019, wo auch die Akteneinsicht eingeschränkt war). Tut sie dies nicht, hat die Strafbehörde die Verletzung des Konfrontationsanspruchs zu vertreten. Tut sie aber das ihr mögliche – z.B. probiert sie eine rechtshilfeweise Einvernahme, nachdem eine zeitnahe Konfrontation durch Untertauchen des Beschuldigten nicht möglich war (so im Fall von 6B_1732/2022), und gelingt dies nicht, hat nicht die Strafbehörde die Verletzung des Konfrontationsanspruchs zu vertreten, sondern der Beschuldigte durch Untertauchen.
Im hier nun publizierten Entscheid dürfte Wesentlich gewesen sein, dass der Belastungszeuge Mitbeschuldigter war, d.h. die Verfahren dürften vermutlich gemeinsam geführt, angeklagt und beurteilt worden sein. Das ergibt sich so zwar nicht direkt aus dem Urteil, ist aber eine starke Annahme, zumal dies nach Art. 29 StPO der Regelfall ist. D.h. der Beschuldigte hatte diesfalls nach eröffneter Untersuchung vermutlich Teilnahmerecht an allen Einvernahmen des Belastungszeugen (hätte ihm also Fragen stellen können), wurde selbst mehrfach befragt (hätte sich also zu den Vorwürfen äussern können) und auch an der Hauptverhandlung vor Strafgericht dürften beide Beschuldigte nochmals befragt worden sein. Somit gaben die Strafbehörden dem Beschuldigten wohl unzählige Möglichkeiten zur Konfrontation, auch als der Beschuldigte volle Akteneinsicht hatte. Wenn dann der Belastungszeuge die Belastungen nicht wiederholt, sondern berechtigterweise das Zeugnis verweigert, ist das nun wirklich nicht von den Strafbehörden zu vertreten, schliesslich kann man den Belastungszeugen nicht zur Aussage zwingen bei bestehendem Zeugnisverweigerungsrecht. Aber auch dann ist die belastende Aussage ja nicht ohne Weiteres resp. nicht als einziger Beweis verwertbar, wie aus obigen Urteilen hervorgeht.
“Die ausgebliebene Konfrontation mit Belastungszeugen verletzt die Garantie aber nicht, wenn diese berechtigterweise das Zeugnis verweigern, …” Die Konfrontationsgarantie, ein über zweitausendjähriges Recht, ist bereits durch das Ausbleiben der Konfrontation verletzt und ein darauf basierendes Urteil unwirksam. Jeder Belastungszeuge muss sich seit Ciceros Zeiten Fragen des zu Verurteilenden stellen lassen. Ausnahmen gibt es nur bei unverfügbarren Zeugen (vor dem Internet war das ein tatsächlich gelegentlich auftretender Fall; heute im Wesentlichen nur noch bei Zeugentod), nicht jedoch bei – wie hier – an sich verfügbaren, aber voluntär nicht befragbaren Zeugen. Wenn er diese dann nicht beantwortet, ist das sein Recht. Ebenso ist es aber das Recht jedes Richters, nach unbeantworteten Fragen, die nach einer Erklärung rufen, zu Gunsten des Angeklagten zu entscheiden.
Das Recht auf Konfrontation ist übrigens bereits dann verletzt, wenn die Befragung des Belastungszeugen nur mittelbar, etwa auf bloss videoakustischem elektronischem Weg, oder durch – etwa durch einen Teil des Gesichts verdeckende Masken – getrennte Zeugen oder Befrager, stattgefunden hat.