Konfrontationsanspruch v. Teilnahmerecht
Wird ein “Belastungszeuge” im polizeilichen Ermittlungsverfahren als Auskunftsperson einvernommen, besteht zwar kein Teilnahmerecht, ein Konfrontationsanspruch im späteren Verlauf des Verfahrens aber allemal. Dies stellt das Bundesgericht in einem aktuellen Entscheid mit Hinweis auf unzählige frühere Entscheide einmal mehr klar (BGer 6B_14/2021 vom 28.07.2021):
Der Beschwerdeführer bestreitet zwar nicht, dass die polizeiliche Einvernahme vom 21. Januar 2016 der Auskunftsperson vor der Eröffnung der Strafuntersuchung stattfand, womit weder er noch sein Verteidiger ein Teilnahmerecht gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO hatten (…). Soweit jedoch der Konfrontationsanspruch zur Diskussion steht, ist unbeachtlich, dass die Strafprozessordnung ein Teilnahmerecht der Parteien nur bei Beweiserhebungen nach eröffneter Untersuchung, nicht aber auch für das polizeiliche Ermittlungsverfahren, vorsieht (vgl. Art. 147 Abs. 1 StPO). Dieser Anspruch gilt auch betreffend die in der Voruntersuchung gegenüber der Polizei gemachten Aussagen (vgl. BGE 125 I 127 E. 6a mit Hinweisen; vgl. Urteil 6B 369/2013 vom 31. Oktober 2013 E. 2.3.2). An der staatsanwaltschaftlichen Konfrontationseinvernahme vom 6. Dezember 2018 machte die Auskunftsperson bei den Fragen, um welche Uhrzeit die Fahrt begonnen habe, welche Strecke zurückgelegt worden sei und zu welchem Zweck, von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch (…). Auch auf die Frage, was sie zum fehlenden Aussenspiegel am B. und den Kratzern am C. sagen wolle, lautete ihre Antwort “Nichts. Nichts.” Bei den restlichen Fragen begnügte sich die befragte Auskunftsperson in der Regel damit, Erinnerungslücken vorzubringen (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).
Zur Frage, ob die früheren Aussagen trotzdem verwertbar sind äussert sich das Bundesgericht wie folgt (vgl. dazu schon meinen früheren Beitrag):
Weder bestätigte die Auskunftsperson die Aussagen vom 21. Januar 2016, noch äusserte sie sich sonst substanziell zur Sache. Dadurch konnte der Beschwerdeführer seine Verteidigungsrechte nicht wirksam ausüben. Im Unterschied zum Sachverhalt im Verfahren 6B_1133/2019 wurde die Auskunftsperson in casu durch das Gericht zur Sache befragt, sodass dem Beschwerdeführer bzw. seinem Verteidiger auch nicht vorgeworfen werden kann, an der Konfrontationseinvernahme vom 6. Dezember 2018 keine Ergänzungsfragen gestellt zu haben (vgl. Urteil 6B_1133/2019 vom 18. Dezember 2019 E. 1.4.1). Der Beschwerdeführer vermochte unter diesen Umständen den Beweiswert der ersten – ohne seine Mitwirkung erfolgten – Aussage nicht auf die Probe und auch nicht in Frage zu stellen (vgl. BGE 131 I 476 E. 2.3.4). Dadurch wurde sein Konfrontationsanspruch im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verletzt. Der Entscheid ist demnach an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung zurückzuweisen. Diese wird eine neue Beweiswürdigung vorzunehmen haben (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).
Bei der neuen Beweiswürdigung sind die Aussagen der Auskunftsperson wohl wiederum nicht zu berücksichtigen. Sie sind mangels Teilnahmerecht im polizeilichen Ermittlungsverfahren zwar nicht unverwertbar (Art. 147 Abs. 4 StPO), aber eben auch nicht konfrontiert (Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK). Stimmt das so?
Was für eine Perle von einem Entscheid!
Mit am wichtigsten der Anschluss an die Meinung SUMMERS/SCHEIWILER/STUDER:
“Umso mehr ist von einer Nichtverwertbarkeit der ersten Einvernahme auszugehen, wenn eine (Auskunfts-) Person in einer späteren Konfrontationseinvernahme von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht”
Aussageverweigerung, Erinnerunslücken und formale Wiederholung von bereits Gesagtem führen faktisch zu “unkonfrontierten” Aussagen. Als Verteidiger*in darf nur nicht vergessen werden, zu versuchen, Ergänzungsfragen zu stellen (“Verstehe ich Sie richtig, dass Sie auch nicht bereit sind, die Fragen der Verteidigung zu beantworten?`”)
Insofern gehe ich einig mit Deiner Schlussfolgerung, kj.
Schliesslich: Schön, dass auch Lausanne Tippfehler unterlaufen…
Müsste es in E. 1.4 nicht gerade heissen “Im Unterschied zum Sachverhalt im Verfahren 6B_1133/2019 wurde die Auskunftspersonin casu `NICHT durch das Gericht befragt”? Denn der Unterschied zwischen dem vorliegenden Fall und dem in 6B_1133/2019 besteht ja gerade darin, dass vorliegend lediglich eine Konfrontationseinvernahme bei der Staatsanwaltschaft und eben nicht vor Gericht stattfand… Oder verstehe ich da etwas falsch?
Sehe ich auch so… Aber wie kann das in dieser entscheidenden Passage niemandem auffallen?
Denn, verstehe ich es richtig:
– macht die Auskunftsperson in der EV bei der Stawa keine Aussage, ist der Verteidiger nicht verpflichtet, Ergänzungsfragen zu stellen (BGer 6B_ 14/2021 E 1.4)
ABER:
– macht die Auskunftsperson vor Gericht keine Aussage, muss der Verteidiger mit Ergänzungsfragen darauf hinwirken, dass sie es doch tut, ansonsten er später keine Verletzung des Konfrontationsanspruchs geltend machen kann (BGer 6B_1133/2019 E. 1.4.1)
Stimmt das so?
Für mich stimmt es so.
Es bleibt dem Zeugen oder der Auskunftsperson aber möglich, auf die damaligen Aussagen bei der Polizei zu verweisen, insbesondere mit dem Hinweis, den Sachverhalt damals noch besser in Erinnerung gehabt zu haben.
Was ich bei diesem Entscheid nicht verstehe ist, wie das in der Praxis gemacht werden sollte, wenn Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise aus den Strafakten zu entfernen sind bei folgendem Beispiel: Die Staatsanwaltschaft hat gestützt auf eine EV einer Auskunftsperson und weiteren Hinweisen einen Tatverdacht begründet und gestützt darauf eine Telefonüberwachung angeordnet. Nun sagt diese Auskunftsperson in der Konfrontationseinvernahme nichts mehr, kann sich nicht mehr erinnern etc. Seine belastenden Aussagen wären ja dann nicht verwertbar. Müsste man seine Einvernahme nun aus den Akten entfernen? Dann würde man aber nicht mehr sehen gestützt worauf die Telefonüberwachung angeordnet wurde.
Kann jemand weiterhelfen?