Konfrontationsantrag v “nemo tenetur” (Treu und Glauben)
Im migrations(straf)rechtlichen Verfahren, welches zur gutgeheissenen Beschwerde in meinem letzten Beitrag führte, stellte sich auch noch die Frage nach einem verletzten Konfrontationsanspruch. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die “informatorischen Befragungen” von Belastungszeugen wohl konfrontationspflichtig gewesen wären, die Beschwerdeführerin aber rechtswirksam darauf verzichtet habe. Dabei stützt es sich aber endlich und erfreulicherweise nicht mehr auf den Grundsatz von “Treu und Glauben” (BGer 7B_253/2022 vom 08.02.2024, Fünferbesetzung). :
2.3.3. Die beschuldigte Person hat gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ein Recht darauf, den Belastungszeugen Fragen zu stellen. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich (von einigen hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen) nur verwertbar, wenn die Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an die Belastungszeugen zu stellen (Konfrontationsrecht; BGE 140 IV 172 E. 1.3; 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; Urteile 7B_186/2022 vom 14. August 2023 E. 2.1; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.2, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen).
Auf die Teilnahme respektive Konfrontation kann vorgängig oder auch im Nachhinein ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden, wobei der Verzicht auch von der Verteidigung ausgehen kann. Ein Verzicht ist nach ständiger Rechtsprechung namentlich anzunehmen, wenn die beschuldigte Person es unterlässt, rechtzeitig und formgerecht entsprechende Anträge zu stellen (vgl. BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; 125 I 127 E. 6c/bb; Urteile 6B_527/2023 vom 29. August 2023 E. 2.2.3; 7B_186/2022 vom 14. August 2023 E. 2.1; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.3, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; 6B_522/2016 vom 30. August 2016 E. 1.3; je mit Hinweisen). Der Verzicht auf das Anwesenheitsrecht schliesst eine Wiederholung der Beweiserhebung aus (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; Urteile 7B_186/2022 vom 14. August 2023 E. 2.1; 6B_999/2022 vom 15. Mai 2023 E. 3.1.1; je mit Hinweisen).
2.3.4. Die beschuldigte Person muss sich nicht selbst belasten. Sie hat namentlich das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern (Art. 113 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO). Dieses strafprozessuale Selbstbelastungsprivileg (“nemo tenetur se ipsum accusare”) folgt aus dem in Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 3 StPO verankerten Grundsatz des “fair trial” und steht in engem Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO). Demnach ist es insbesondere Sache der Anklagebehörde, die Schuld der beschuldigten Person zu beweisen. Diese hat ihre Unschuld nicht nachzuweisen (BGE 148 IV 205 E. 2.4 mit Hinweisen; 129 I 85 E. 4.4). Indem die beschuldigte Person zur Verweigerung der Mitwirkung schlechthin berechtigt ist, hat sie keinerlei Pflicht, durch aktives Verhalten das Verfahren zu fördern und so zur eigenen Überführung beizutragen (vgl. JOSITSCH/SCHMID, Praxiskommentar Schweizerische Strafprozessordnung; 4. Aufl. 2023, N. 1 zu Art. 113 StPO; MARC ENGLER, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 2 zu Art. 113 StPO; MARCUS STADLER, Verwirkung wegen Treu und Glauben?, 2022, S. 278; VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 19 zu Art. 113 StPO).
2.3.5. Wie das Bundesgericht in früheren Entscheiden festgehalten hat, steht das Selbstbelastungsprivileg nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung betreffend Verzicht auf das Konfrontationsrecht. Es wurde darauf verwiesen, dass es der beschuldigten Person freisteht, ob sie von ihrem Konfrontationsrecht Gebrauch machen will (Urteile 6B_100/2017 vom 9. März 2017 E. 3.2; 6B_522/2016 vom 30. August 2016 E. 1.3).
Daran ist – trotz der in der Lehre geäusserten Kritik, wonach das Selbstbelastungsprivileg nicht dadurch unterlaufen werden dürfe, dass der Verteidigung zusätzliche Rügepflichten auferlegt werden (vgl. ENGLER, a.a.O., N. 7b zu Art. 113 StPO; GERTH/REIMANN, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 64 zu Art. 3 StPO; STADLER, a.a.O., S. 293 f.; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 13 zu Art. 3 StPO; ZHUOLI CHEN, Die verspätete Rüge von Beweisverwertungsverboten im Strafprozess, forumpoenale 3/2012 S. 164) – festzuhalten. Ob der zur Begründung herangezogene Grundsatz von Treu und Glauben und das daraus fliessenden Verbot widersprüchlichen Verhaltens (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO und Art. 5 Abs. 3 BV; vgl. BGE 143 IV 397 E. 3.4.2 mit Hinweisen) tatsächlich einschlägig sind, kann offenbleiben. Entscheidend ist nämlich, dass es sich beim Konfrontationsrecht um ein Mitwirkungsrecht der beschuldigten Person handelt. Dessen Ziel ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens (BGE 131 I 476 E. 2.2 mit Hinweis). Es existiert somit im Interesse der beschuldigten Person und soll dieser konkret erlauben, belastende Aussagen in kontradiktorischer Weise in Frage stellen zu können. Nicht eigentlicher Sinn und Zweck des Konfrontationsrechts ist es dagegen, der beschuldigten Person bei unterlassener Konfrontation die Entfernung eines womöglich belastenden Beweismittels aus den Akten zu ermöglichen. Ob die beschuldigte Person das Recht auf Konfrontation effektiv wahrnehmen will, steht ihr demnach frei. Die Wahrnehmung dieses Rechts verlangt (sofern die Strafbehörden nicht von Amtes wegen Konfrontationseinvernahmen durchführen) ein aktives Tätigwerden, indem entsprechende Beweisanträge gestellt werden. Wird nicht spätestens im Berufungsverfahren (ausser dieses habe nur Übertretungen zum Gegenstand, Art. 398 Abs. 4 StPO) die Befragung der fraglichen Zeugen und Zeuginnen beantragt (vgl. Urteile 6B_70/2023 vom 31. Juli 2023 E. 2.6; 6B_1395/2021 vom 9. Dezember 2022 E. 11.2.4 und 11.4.1; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.4.2, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen), liegt darin nach dem Gesagten der Verzicht auf die Ausübung eines Rechts, das der beschuldigten Person im Rahmen ihrer generellen Verteidigungsrechte zusteht. Das Selbstbelastungsprivileg bleibt unberührt.
2.3.6. In casu rügt die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht zwar die Unverwertbarkeit der Aussagen des Ehepaars E. sowie von G. und H., sie hat vor der Vorinstanz jedoch keine Anträge auf erneute Befragung dieser Personen gestellt. Den vorstehenden Erwägungen zufolge ist die Vorinstanz damit zu Recht von einem gültigen stillschweigenden Verzicht auf die Ausführung des Rechts auf Konfrontation ausgegangen. Die informatorischen polizeilichen Befragungen der genannten Personen sind somit verwertbar.
Diese Rechtsprechung des Bundesgerichts steht so diametral im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 6 EMRK und der Rechtsprechung dazu, dass man von Rechtsbeugung sprechen könnte. Der EGMR sagt eindeutig, dass der Anspruch auf Konfrontation von der Verfahrensleitung sicherzustellen ist und dass es einer ausdrücklichen Erklärung des Beschuldigten bedarf, wenn er darauf verzichten möchte. Ein stillschweigender Verzicht ist ausdrücklich ausgeschlossen.