Konfrontationsrecht betrifft alle Belastungszeugen
Mit BGer 6B_708/2007 vom 23.04.2008 stellt das Bundesgericht einen sehr interessanten Fall ins Internet. Der Beschwerdeführer war von der Vorinstanz wegen qualifizierter Vergewaltigung, Gefährdung des Lebens und Missachtung einer Ausgrenzungsverfügung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Dieses Urteil hat das Bundesgericht kassiert.
Der Beschwerdeführer machte u.a. geltend, die Verteidigung vor erster Instanz sei ungenügend gewesen, weil die amtliche Verteidigerin ihre Aufgaben weitgehend an einen Volontär delegiert hatte. Dies allein reicht dem Bundesgericht bekanntlich jedoch nicht. Es teilt die nachfolgend zitierte Auffassung der Vorinstanz:
Die Vorinstanz hält fest, aus Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK ergebe sich nicht, dass als Pflichtverteidiger lediglich ein Rechtsanwalt in Frage komme. Selbst die direkte Bestellung eines Volontärs wäre deshalb zulässig. Das kantonale Recht, gemäss welchem nur ein Anwalt als Pflichtverteidiger in Frage komme, sei deshalb zugunsten des Beschwerdeführers strenger als die Praxis zur EMRK. Daraus folge, dass sowohl die kantonale Regelung in § 6 Advokaturgesetz (SG 291.100), welche das Auftreten als berufsmässige Vertretung vor den Gerichten des Kantons Basel-Stadt (Substitution) ausdrücklich gestattet, als auch die Praxis des Appellationsgerichts, wonach die Erteilung von Untervollmachten an Volontäre üblich und zulässig ist, vor der EMRK standhalte (E. 4.1.2).
Zu prüfen war dann aber, ob die Verteidigung im konkreten Fall unzureichend war. Hierzu lässt sich dem Urteil leider gar nichts entnehmen. Das Bundesgericht beschränkt sich darauf festzustellen, dass es die Erwägungen der Vorinstanz teile (E. 4.1.3).
Durchgedrungen ist der Beschwerdeführer hingegen mit seiner Rüge der Verletzung des Anspruchs auf Konfrontation mit einem Belastungszeugen, der lediglich telefonisch befragt worden war. Die Vorinstanz hatte offenbar ernsthaft geglaubt, diese Aussage retten zu können, indem sie sie bloss als Indiz statt als Beweis verwertete. Eine solche Argumentation konnte vor Bundesgericht unmöglich stand halten:
Der Beschwerdeführer wendet zu Recht ein, dass das Konfrontationsrecht alle Belastungszeugen betrifft. Entscheidend ist einzig, dass der Zeuge mit seiner Aussage den Angeklagten belastet und das Gericht diese Aussage für die Begründung des Urteils verwendet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist nicht von Bedeutung, ob es sich um ein blosses Indiz handelt und welcher Beweiskraft diesem Indiz zukommt. Jedes Indiz kann sich – einzeln oder zusammen mit anderen – zuungunsten eines Angeklagten auswirken und gegebenenfalls für den Schuldspruch ausschlaggebend sein, wovon letztlich auch die Vorinstanz ausgeht. Die Aussagen des Zeugen G. hätten deshalb nur verwendet werden dürfen, wenn die Mitwirkungsrechte des Beschwerdeführers eingehalten worden wären. Die polizeiliche Befragung vom 19. Oktober 2005, an welcher weder der Beschwerdeführer noch die Verteidigerin bzw. deren Vertreter anwesend waren, erfüllt die nötigen Voraussetzungen nicht. Der Mangel hätte im gerichtlichen Verfahren durch eine formell gültige Zeugeneinvernahme geheilt werden können, was indessen nicht erfolgt ist. Somit dürfen die fraglichen Aussagen zulasten des Beschwerdeführers nicht verwendet werden. Indem die Vorinstanz trotzdem darauf abstellte, hat sie den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) wie auch das Verteidigungsrecht nach Art. 32 Abs. 2 BV verletzt. Ziel der genannten Normen ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens (BGE 131 I 476 E. 2.2 S. 480; 129 I 151 E. 3.1 S. 153 f. mit ausführlichen Hinweisen). Die Rüge ist deshalb berechtigt, was zur Gutheissung der Beschwerde führt. Aufgrund der Begründung im vorinstanzlichen Urteil, wonach die Zeugenaussage G. als Teil einer Indizienkette zu werten ist, in welche sie sich nahtlos einfüge, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, deren Wegfall habe keinen Einfluss auf den Verfahrensausgang (Art. 97 Abs. 1 BGG) (E. 4.4.3, Hervorhebungen durch mich).
Der letztzitierte Satz lässt erahnen, dass die Vorinstanz bei der Neubeurteilung zum gleichen Ergebnis kommen wird, möglicherweise unter Verzicht auf ein Abstellen auf die Aussagen des Zeugen G. Damit könnte sogar die Konfrontation und damit wohl auch eine unliebsame öffentliche Verhandlung verhindert werden.
Es liegt in der Natur der telefonischen Einvernahme, dass kein unterzeichnetes Protokoll vorliegt. Wie soll unter diesen Umständen die Glaubhaftigkeit der telefonischen Aussage beurteilt werden, wenn diese ja nicht in der vorgeschriebenen gültigen Form festgehalten wurde. Eine Wiederholung der Zeugenbefragung kann diesen Mangel nicht heilen, weil Widersprüche zwischen der telefonischen und der neuen Aussage nicht aufgedeckt werden können.
Merkwürdigerweise stösst sich niemand daran, dass den Strafverfolgungsbehörden seit BGE 92 I 259 (aus dem Jahre 1966!) bekannt ist, dass telefonische Einvernahmen verboten sind. Folglich wird diese Art der Einvernahme aus anderen Gründen (eventuell Beeinflussung des Zeugen?) praktiziert. Auch dies lässt sich mangels Teilnahmerecht der Verteidigung nicht mehr prüfen, nicht wahr?
Und wie lässt sich am Telefon die Identität der befragten Person feststellen?
Da ist eben auch nichts stossendes. BGE 92 I 259 betrifft lediglich die Frage der *Zeugnisqualität* einer telefonischen Befragung. Die Zulässigkeit telefonischer Befragungen an sich wird explizit bejaht. Verneint wird dagegen, dass es sich dabei um eine *Zeugeneinvernahme* handeln soll oder kann.
Verboten sind sie also damit keineswegs, es wird nur eine beschränkte Beweiskraft festgehalten. Aus heutiger Sicht keine besonders bahnbrechende Feststellung.
Einverstanden, daz. Man muss sich aber schon fragen, wieso telefonische Einvernahmen überhaupt durchgeführt werden, denn Beweiswert haben sie an sich gar keinen. Zu verlangen ist im Minimum, dass telefonische Befragungen aktenkundig gemacht werden, was oft genug nur dann erfolgt, wenn der Befragende das zu hören bekommt, was er erwartet.
Es kann ja durchaus sein, dass der Einvernehmende den Inhalt der telefonischen Einvernahme niederschreibt, den Text dem Einvernommenen zukommen lässt, etwa indem er ihn in dessen Stammbeiz hinterlegt, dass der Einvernommene ihn dann dort, allenfalls nach ein paar Bier, unterschreibt, und ihn für den Einvernehmenden in der Beiz zurücklässt bis dieser dann wieder mal dort vorbeikommt. So findet der Inhalt der telefonischen Befragung Aufnahme in die Akten, ohne dass sich Befrager und Befragter je gesehen haben.