Krumpholz c. Österreich

HRRS macht auf eine EGMR-Kammerentscheidund aufmerksam, die Schutz des Schweigerechts und der Unschuldsvermutung verbessert (EGMR Nr. 13201/05 (1. Kammer) – Urteil vom 18. März 2010 (Krumpholz v. Österreich). Die Leitsätze des HRRS-Bearbeiters Karsten Gaede lauten wie folgt:

1.  Die Verurteilung des Halters eines KFZ für eine Geschwindigkeitsübertretung, die mit seinem KFZ begangen wurde, verstößt gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK, wenn sie allein auf seiner Haltereigenschaft und auf seinem Schweigen zur Person des Fahrers während der Tat beruht. In diesem Fall liegt keine Situation vor, in der das Schweigen des Halters nur damit erklärt werden kann, dass ihm jede Verteidigung unmöglich ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Halter die Tat in Abrede stellt und erklärt, den Fahrer wegen der Nutzung des KFZ durch mehrere Personen nicht angeben zu können und die Verurteilung nur in einem schriftlichen Verfahren fällt.

2. Auch wenn sie nicht explizit in Art. 6 EMRK genannt sind, zählen das Schweigerecht und die Selbstbelastungsfreiheit zu den allgemein anerkannten internationalen StandardS. Sie gehören zum Kernbereich des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK.

3. Der EGMR akzeptiert, dass die Verwertung des Schweigens des Angeklagten zu seinen Lasten nicht stets Art. 6 EMRK verletzt. Ob dies der Fall ist, muss jedoch für jeden einzelnen Fall beurteilt werden. Es kommt hier insbesondere darauf an, in welcher Situation belastende Schlüsse gezogen werden, welches Gewicht die nationalen Gerichte diesen Schlüssen beigelegt haben und welches Maß an Zwang der Situation zukam. Im Fall John Murray hat der EGMR eine Verletzung durch belastende Schlüsse aus dem Schweigen – die durch prozedurale Schutzinstrumente eingehegt waren – abgelehnt, weil der Staat eine prima facie gut begründete Anklage gegen Murray erhoben hatte, die zu ihrer Ausräumung unzweifelhaft eine Erklärung durch den Angeklagten erforderlich sein ließ.

4. Belastende Schlüsse aus dem Schweigen des Angeklagten können auch in einem System der freien Beweiswürdigung gestattet sein, soweit die Beweise gegen den Angeklagten so stark sind, dass der einzig sinnvoll mögliche Schluss aus dem Schweigen darin liegt, dass sich der Angeklagte gegen die Beweise nicht erfolgreich verteidigen kann, sondern der gesuchte Täter ist. Hieran sind aber strenge Maßstäbe zu stellen, damit die Beweislast des Staates nicht durch die Gerichte auf den Angeklagten übertragen wird.

5. Es verstößt nicht stets gegen Art. 6 EMRK, wenn der Halter eines KFZ unter Androhung einer Geldbuße verpflichtet wird, den Fahrer zu benennen, der das KFZ während eines Straßenverkehrsdelikts gefahren hat.