Kurz oder lang?
Vor ein paar Wochen hat das Bundesgericht in einem Grundsatzentscheid entschieden, dass die Dauer einer Vergewaltigung nie zu Gunsten des Täters zu werten sei (BGE 6B_612/2024 vom 18.09.2024, Publikation in der AS vorgesehen). Anlass dazu gaben zwei Entscheide des Bundesgerichts, auf die sich der Beschwerdeführer berufen wollte (BGer 7B_15/2021 und BGer 7B_16/2021, beide vom 19.09.2023 E. 6.1). Das Bundesgericht erklärt, wieso er aus den Formulierungen der beiden Entscheide nichts für sich ableiten kann. In der Medienmitteilung drückt es sich nun wie folgt aus:
Das Bundesgericht stellt klar, dass der isolierten und unangemessenen Formulierung zur “relativ kurzen Dauer” einer Vergewaltigung in einem Entscheid vom vergangenen Jahr für die Rechtsprechung keine Bedeutung zukommt. Im Gegensatz dazu, was die fragliche Passage vermuten lassen könnte, darf die Dauer einer Vergewaltigung bei der Strafzumessung in keinem Fall zu Gunsten des Täters berücksichtigt werden. Umgekehrt kann es sich durchaus erschwerend auf die Schuld des Täters auswirken, wenn die Länge der Tat auf eine erhöhte kriminelle Energie schliessen lässt.
Im Entscheid selbst finden sich folgende Formulierungen:
Le recourant soutient que la cour cantonale aurait dû atténuer sa culpabilité en raison “de la brièveté de l’acte”. Pour ce faire, il se prévaut de l’arrêt 7B_15/2021 du 19 septembre 2023 en affirmant que la durée relativement courte d’un viol serait un facteur de diminution de la culpabilité.
Le recourant ne saurait tirer une telle conclusion générale. Cet arrêt ne renferme qu’une formule isolée et inadéquate, alors que la question de la durée de l’acte n’a pas fait l’objet de développement de la part du Tribunal fédéral. De manière générale et contrairement à ce que pourrait laisser supposer l’arrêt précité, il convient de rappeler que la durée d’une agression sexuelle est sans lien avec la gravité de la lésion au bien juridique protégé. La désignation de “viol de courte durée” constitue un non-sens, tant l’atteinte au bien juridique protégé est consommée dès les premiers instants de l’acte sexuel. Sous l’angle de la culpabilité, on ne saurait récompenser l’auteur d’un viol en fonction de la durée de son activité criminelle. En aucun cas la durée “relativement courte” d’un viol ne saurait être érigée en facteur atténuant. En effet, le fait qu’un auteur agisse avec une certaine rapidité ne peut nullement être considéré comme un élément à décharge. En revanche, rien n’empêche de prendre en compte la durée de l’activité criminelle dans un sens aggravant de la culpabilité dans la mesure où son prolongement dans le temps est susceptible de correspondre au déploiement d’une énergie criminelle d’autant plus conséquente (E. 1.4.2, Hervorhebungen durch mich).
Wer sieht den Denkfehler?
Was ist der Denkfehler? Dass man so auch eine lange Dauer der Vergewaltigung eigentlich nicht strafverschärfend werten könnte, weil die Verletzung des Rechtsguts (die sexuelle Integrität) ja eben ab der ersten Sekunde vorliegt?
@Student: Nein.
@KJ
Hätte auch das gleiche wie der Student gemeint, da ja das Rechtsgut die sexuelle Integrität ist… aber da “nein” schon als Antwort kam:
Ist der Denkfehler die implizite Annahme einer “normalen” Vergewaltigungsdauer?
Obwohl das Gericht die “relativ kurze Dauer” des Vergewaltigungsaktes als mildernden Faktor ablehnt, geht es dennoch implizit von einer “normalen” oder “durchschnittlichen” Dauer einer Vergewaltigung aus. Was suggeriert, dass es eine Art “Skala” für Vergewaltigungen gibt. Und ja dann doch wieder in der Strafzumessung berücksichtigt wird?
Sonst sehe ich noch als “Denkfehler”, dass das BGer aus dem Fehlen von Vorstrafen auf einen “neutralen Effekt” bei der Strafzumessung schliesst. – impliziert, dass ein Ersttäter milder bestraft werden sollte als ein Wiederholungstäter: Aber es wird ja die sexuelle Integrität EINER Person geschützt. Falls der Täter eine andere Person vergewaltigt, dann wäre er ja immer noch Ersttäter (bei dieser Person)?
@Laie: Man kann es auch so sagen. S. meine Antwort zu @Echtsgut.
Nun, wenn es sich verschuldensmässig erschwerend auswirken kann, wenn die Vergewaltigung länger dauert, dann müsste es ja auch möglich sein, eine kürzere Vergewaltigung verschuldensmindernd zu betrachten – einfach aus Gründen der Logik.
@Anonymous: Genau. Es ist eine Frage der Logik.
Ich versuche es mal bzw. teile mal meine spontane Reaktion mit. Vorab kommt es nie gut, wenn man im rechtlichen Kontext von “nie” oder “generell” oder “ohne Ausnahme” spricht. Insofern zu sagen, die kurze Dauer spiele zugunsten des Täters nie eine Rolle, ist schon mal sehr fraglich. Untauglich scheint mir die Auffassung mit der Verletzung des rechtsguts bereits ab der ersten Sekunde. Darum geht’s nicht. Das rechtsgut wurde verletzt, klar, darum wurde ja verurteilt. Hier geht es aber, im Rahmen der Strafzumessung, um die Frage, in welchem Ausmass das rechtsgut verletzt wurde. Stichwort Ausmass des verschuldeten Erfolgs. Und hier kann doch die zeitliche Dauer durchaus (auch zugunsten des Täters) eine Rolle spielen, jedenfalls prinzipiell genau gleich wie bei der Verschärfung wegen langer Dauer.
@Echtsgut: Sehe ich genau gleich. Entweder die Dauer spielt eine Rolle oder eben nicht. Solange sie eine spielt – und das kann sie ja auch nach Bundesgericht – dann fliesst sie notwendigerweise in die Strafzumessung ein. Was nach oben einfliessen kann, muss logischerweise auch nach unten einfliessen können. Entweder die Dauer ist ein Kriterium oder eben nicht. Man darf es dann im Urteil einfach nicht so formulieren wie es ist. Aber das ist dann reine Semantik.
Find ich schwierig: Das Rechtsgut ist im Zeitpunkt des Eindringens verletzt. Dies ist der Ausgangspunkt. Je länger nun die Vergewaltigung dauert, desto schwerer wird (grundsätzlich) die Verletzung des Rechtsguts und desto höher ist in der Regel wohl auch die kriminelle Energie. Für den Umkehrschluss, dass eine kürzere Vergewaltigung schuldmindernd zu berücksichtigen ist, besteht gar kein Raum, da keine Vergleichsmöglichkeit besteht,. Vereinfacht: Der Täter einer langen Vergewaltigung hätte früher aufhören können, weshalb es schlimmer ist. Dem gleichen Täter kann aber nicht schuldmindernd zugestanden werden, er hätte ja in Theorie noch viel länger vergewaltigen können. Ich komme bei den vom BGer verwendeten Begrifflichkeiten auch nicht draus, finde den Entscheid aber im Ergebnis richtig.
@Budnick: Schuldminderung würde ich natürlich auch nicht zubilligen. Aber wenn die Dauer ein Strafzumessungskriterium sein kann, was ja wirklich nicht auszuschliessen ist, dann ist sie eben relevant. Nach oben wie nach unten. Lösen kann man das Problem (bzw. die Diskussion) nur mit einer Mindeststrafe. Aber auch dann wird man im Einzelfall vielleicht mal sagen müssen, es gebe auch aufgrund der kurzen Dauer keine Gründe, über die Mindeststrafe hinauszugehen.
Mich würde der Denkfehler auch interessieren. Mich irritiert die öffentliche Debatte etwas. Es muss doch möglich sein, im Rahmen der Festsetzung der Einsatzstrafe die Dauer der Vergewaltigung zu berücksichtigen? Bei der Eruierung der Tatkomponente ist nach meinem Verständnis wegweisend, ob die konkrete Konstellation eher in den leichten, den mittelschweren oder den schweren denkbaren Fällen des entsprechenden Straftatbestands zu lokalisieren ist. Ein 30-minütiger Vorfall ist doch innerhalb der möglichen Vergewaltigungsfälle ein schlimmerer, denkbarer Fall, als z.B. nur ein Akt von fünf Minuten?
@Unwissender GS: Das Bundesgericht bringt ja die Dauer gleich selbst wieder ins Spiel. Sie kann eine Rolle spielen und wenn das so ist, dann ist die kurze V milder zu bestrafen als die lange.
Aber das ist im Ergebnis ja so, auch wenn nur die lange Vergewaltigung zur Strafschärfung führt ist die kürzere (nicht kurze) automatisch weniger strafbelastet?
Ich verstehe es so: es gibt für die Vergewaltigung eine Mindeststrafe, diese wird nun nicht gekürzt wegen der Länge aber kann verschärft werden wegen der länge. Wird jemand tagelang vergewaltigt ist das sicher härter zu bestrafen wobei damit in der Regel dann ja auch Freiheitsberaubungn und anderes miteinhergehen was die Strafe sowieso schärft.
Wenn ” […] die Dauer einer kriminellen Handlung schulderhöhend zu berücksichtigen [ist], wenn die Länge der Tat auf eine umso höhere kriminelle Energie des Täters schliessen lässt”, dann kann folglich eine kürzere Tatdauer auf eine niedrigere kriminelle Energie schliessen lassen (und daher schuldmindernd wirken).
“Dass die Dauer eines sexuellen Übergriffs in keinem Zusammenhang mit der Schwere der Verletzung des geschützten Rechtsguts steht […] zumal die Verletzung des geschützten Rechtsguts ab dem ersten Moment der sexuellen Handlung bewirkt wird.”
Hier verändert also die Dauer das Tatverschulden nicht.
Dies sind aber zwei verschiedene Komponenten (von mehreren) des Tatverschuldens:
– “Schwere der Verletzung des geschützten Rechtsguts” (objektive Tatschwere)
– und “kriminelle Energie” (subjektive Tatschwere; vgl. Hans Mathys, Leitfaden Strafzumessung, 2016, Inhaltsverzeichnis § 5).
Wenn also allein die kriminelle Energie mit der Tatdauer steigen oder sinken kann, dann verändert sich auch das Ausmass des Tatverschuldens. Medienmitteilung und Entscheid argumentieren m.E. widersprüchlich bzw. unlogisch.
Beide sind aber – zumindest für mich – schwierig zu verstehen, weil sie in der Argumentationslinie von einem Begriff zum anderen springen: “Schwere der Verletzung des geschützten Rechtsguts”, “Schuld”, “mildernder Umstand” und “kriminelle Energie”.
@Henry: Yess!
@henry. Hehe, interessanter Hinweis mit der kriminellen Energie und m.e. total einleuchtend. Eine tiefe kriminelle Energie müsste sich verschuldens mindernd auswirken. Wenn diese mit längerer Dauer steigt, müsste sie mit kürzerer Dauer sinken… Heureka! Ein schelm, wer denkt, hier sei ein politisch/medial (vermeintlich) erwünschtes Urteil gefällt worden…
Erlaubt sei die weitere Frage, warum die I. strafrechtliche Abteilung die II. nicht beigezogen hat (Art. 23 BGG).
Es handelt sich bei der Begründung dieses Urteils, der Medienmitteilung und der Aufnahme in die Liste der publizierten Urteile in meinen Augen relativ offensichtlich um ein “Symbolurteil” im Sinne einer “Symbolpolitik”, welches die Erwartungen der Gesellschaft abholt aber in der Praxis rein gar nichts ändern wird.
Lange Dauer = Erhöhte kriminelle Energie = schulderschwerend -> “Normale” Dauer = normale kriminelle Energie = neutral bzw. weder erschwerend noch vermindernd -> Kurze Dauer = Verminderte kriminelle Energie = schuldmindernd
Alles andere macht keinem Sinn.
Angesehen davon, dass wie @Laie schon sagt, für eine Auswirkung der Länge der Tat auf die Schuldzumessung erst eine Standardlänge festgelegt werden müsste, was zum Einen recht unethisch daherkommt, zum Anderen meines Wissens entsprechende Daten nicht statistisch erfasst werden. Von einer “langen Dauer” ohne Wissen über die normale Dauer zu sprechen, ist willkürlich, der/die Richter kann/können höchstens seine/ihre persönliche (Berufs-)erfahrung als Referenz heranziehen, aber das ist alles andere als objektiv.
Es gibt eben keine kurze Dauer, die kurze vergewaltigung ist schon der Normalfall, (die meisten Männer haben ja nicht langes stehvermögen, wenn es zu einer „langen“ vergewaltigung kommt, ist die Person in der Regel entführt willensunfähig, freiheitsberaubt womit die Strafe sowieso verschärft wird) die im Endeffekt auch wenn sie nicht gemildert wird, weniger bestraft wird als die lange Vergewaltigung.
@sf.. Wer sagt denn, dass es solch strikte abstufungen geben muss? Die Strafzumessung ist bekanntlich keine exakte Wissenschaft. Mir scheint einfach, dass eine 30 sekündige Vergewaltigung nicht das gleiche strafzumessungsrelevante Ausmass hat wie eine 30 minütige Vergewaltigung. Zumal wenn der Täter nach 30 Sekunden ablässt, z.b. weil ihm plötzlich vergegenwärtigt wird, was er überhaupt macht und er dann sozusagen aus Reue aufhört. Anders wäre es vielleicht, wenn die Vergewaltigung nur deshalb nach kurzer Dauer aufgehört wurde, weil bspw. Eine Störung durch dritte erfolgte und der Täter flüchten musste etc. Etc. Die Konstellationen können vielfältig sein. Da scheint mir eine “nie”-zugunsten-des-Täters-Haltung mit Bezug auf die tatdauer juristisch einfach nicht sehr überzeugend.