Kurze Freiheitsstrafen beliebt wie nie
Im Jahr 2014 wurden gemäss der neu veröffentlichten Strafurteilsstatistik (SUS) ca. 110,000 Strafurteile gegen erwachsene Personen im Strafregister eingetragen. Dank dem Nebenstrafrecht verharrt die Statistik auf dem Höchststand des Vorjahres (Verurteilungen wegen Übertretungen sind mangels Strafregistereintrags nicht erfasst). Was auffällt:
Mit der Revision AT StGB wollte der Gesetzgeber die kurzen Freiheitsstrafen massiv zurückdrängen. Gemäss Statistik liegt die Zahl der verhängten kurzen Freiheitsstrafen heute mit 6,900 Urteilen volle 26 Prozent über derjenigen vor der Revision. Das könnte daran liegen, dass der Exekutive (Staatsanwaltschaft, Strafbefehlsverfahren) egal ist, was die Legislative beschliesst und besser weiss, was gut ist. Und die Justiz? Die hat bekanntlich mit Strafurteilen kaum mehr zu tun. Sie dürfte bestenfalls für ca. 10,000 Urteile verantwortlich sein.
Ich denke leider auch, dass diese Entwicklung in erster Linie auf die Ausdehnung der Strafbefehlskompetenz der Staatsanwälte auf bis zu 6 Monate Freiheitsstrafe zurückzuführen ist, welche mit der neuen StPO anfangs 2011 in Kraft trat. Meines Wissens sah unter dem kantonalen Strafprozessrecht zuletzt nur der Kanton BL eine derart hohe Strafbefehlskompetenz vor. Hinzu kommt, dass seit der neuen StPO (anders als unter den allermeisten kantonalen Prozessordnungen) nicht einmal mehr ein Geständnis des Beschuldigten vorliegen muss, damit der Staatsanwalt einen Strafbefehl ausstellen darf. Auch eine vorgängige Einvernahme des Beschuldigten wird nicht zwingend vorausgesetzt. So ist natürlich die Verlockung für überlastete Staatsanwälte gross, im Zweifelsfall einfach einmal einen Strafbefehl zu erlassen, was in der Regel auch zu einer rechtskräftigen Verfahrenserledigung führt, da erstaunlich wenig Einsprachen gegen Strafbefehl erhoben werden (aus welchen Gründen auch immer, vermutlich aber, weil die meisten Betroffenen deren Tragweite nicht verstehen) und ein Teil der Einsprachen dann noch an Formalien scheitern. Entgegen dieser unguten, auch bereits in der Lehre abgehandelten Entwicklung, verhandeln die eidgenössischen Räte zur Zeit aber anlässlich der laufenden StPO-Revision nicht etwa über die fällige “Zurechtstutzung” der Strafbefehlskompetenz auf ein vernünftiges Mass, sondern im Gegenteil über deren Erhöhung auf bis zu 12 Monate Freiheitsstrafe! Bin ich der Einzige, dem hier Übles schwant?
Bei weitem nicht der Einzige. Eher einer von vielen, die nicht gehört werden wollen.
Wehrt man sich gegen Strafbefehle, so wird einem beschieden, es habe sich “nur um einen Vorschlag” gehandelt, der selbstverständlich “gerügt” werden darf. Dies kostet aber oftmals ein saftiges Eintrittsgeld via Gerichtsvorschuss. Strafbefehle werden zudem, ähnlich wie Nichtanhandnahme- oder Einstellungs-Verfügungen, immer wieder mit schlampig ausgewähltem BGE oder sonstigen juristischen Fundsachen dekoriert. Konsultiert man diese, so ergibt sich , dass diese oftmals exakt gegenteilig ausgefallen sind zu dem, was der STA mit ihnen wirklich belegen will. Im Kt.SZ z.B. lungern rund 30 überzählige STA auf die Bezirke verstreut herum. Ihre Aufgabe scheint einzig darin zu bestehen, die Dorfhierarchien zu schützen. Rechtsprechung gehört nicht dazu.
Der Beschuldigte muss nach erhobener Einsprache bzw. allgemein im Strafverfahren (nach StPO) keinen Kostenvorschuss bezahlen. Aber es ist schon so, dass der Strafbefehl für den Beschuldigten oft günstiger ist als ein Weiterzug, selbst wenn jener falsch ist.
Ich kann mich nicht erinnern, in einem Strafbefehl schon mal einen Hinweis auf einen BGE gesehen zu haben – in einigen Kantonen kann man ja scheinbar schon froh sein, wenn der Sachverhalt darin erwähnt wird. Nicht nur insofern sind durchaus gewisse rechtsstaatliche Bedenken angebracht.
Geschätzte Kollegen
Ich bitte euch, doch etwas zurückhaltender mit eurer – in Einzelfällen vielleicht auch berechtigten Kritik zu sein – aber Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die herumlungern oder schlampige Begründunden in Strafbefehlen schreiben, kenne ich keine. Es mag allerdings sein, dass mir eure Subtilität in juristischen Belangen abgeht, jeder hat schliesslich seine Grenzen. Also, bitte nicht auf den Klavierspieler schiessen, er gibt sein Bestes!
Müller Staatsanwalt im Kanton BL
@Müller Staatsanwalt im Kanton BL: Das ist nicht Dein Blog und Du bestimmst hier nicht die Regeln. Hier darf man auch auf den Klavierspieler schiessen. Wenn es selbst mir und meiner libertären Grundhaltung zu weit geht, blocke ich schon, keine Angst. Im Übrigen danke ich Dir für Deine Kommentare und freue mich, wenn Du weiterhin mitmachst.
Lese ich hier richtig? Wird tatsächlich proklamiert, es sollen entweder mildere Strafen (Geldstrafen statt Freiheitsstrafen) oder schärfere Strafen (welche das Gericht sprechen müsste) ausgesprochen werden? … die Statistik würde zumindest dem Vorwurf der “Kuscheljustiz” teilweise widersprechen?… aufgrund der Infos ist nicht klar, ob die Strafen nun zu mild oder zu streng sind… oder habe ich was übersehen?
Ich sehe nicht, inwiefern man aufgrund einer Statistik erkennen könnte, ob Strafen zu mild oder zu streng, sprich dem Delikt angemessen sind. Das kann man m.E. höchstens aufgrund des (bewiesenen) Sachverhalts im Einzelfall beurteilen – den die Leserbriefschreiber/innen, die sich oft über allgemein zu milde Strafen beschweren, ja in aller Regel nicht kennen.
“Müller Staatsanwalt BL”, der kommende running gag (oder war das nur ein fake?). Jedenfalla hat sich der Rechtsstaat bzw. eine Strafjustiz, welche den Namen verdient mitunter dank “Müller Staatsanwalt BL”, längst abgemeldet.
Hier muss ich “Müller Staatsanwalt BL” in Schutz nehmen. Das Problem liegt in erster Linie beim Gesetzgeber, der die Staatsanwälte erklärtermassen zu Gunsten der “Effizienz” (vgl. die Botschaft zur eidgenössischen StPO) und somit, natürlich ohne das Kind beim Namen zu nennen, zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit, mit einer derart weitreichenden Strafbefehlskompetenz ausgestattet hat. Dass die Staatsanwälte nun auch davon Gebrauch machen, kann man ihnen schlecht vorwerfen bzw. das hiesse tatsächlich (zumindest ein Stück weit) auf den “Klavierspieler” zu schiessen.
Wie wird dem Anklageprinzip in denjenigen Kantonen bei Einsprachen nachgelebt, in denen der Strafbefehl nicht einmal einen Sachverhalt enthält, daran aber festgehalten wird? Bekanntlich gilt der Strafbefehl dann als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 StPO). Schon mit Sachverhalt kann die Einhaltung des Anklageprinizps grenzwertig sein.
Das hat das Bundesgericht mehrfach entschieden (je in einem Fall aus LU und BE). Keine Verurteilung möglich. Was dann aber weiter möglich ist (neuer Strafbefehl / neue Anklageschrift?) ist noch nicht klar.