Landesverweis nach ungenügenden Abklärungen?
Das Obergericht des Kantons Bern muss eine von ihm verhängte Landesverweisung nochmals prüfen. Es hat offenbar übersehen, dass auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten ausserhalb der Kernfamilie vom Schutzbereich von Art. 8 EMRK erfasst sein können (BGer 6B_1144/2021 vom 24.04.203, Fünferbesetzung):
Wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, gehört zu dem durch Art. 8 EMRK geschützten Familienkreis in erster Linie die Kernfamilie; bei hinreichender Intensität können aber auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten vom Schutzbereich von Art. 8 EMRK erfasst sein (vgl. supra E. 1.2.3). Nach der Rechtsprechung des EGMR sind für die Bejahung eines “de facto” Familienverhältnisses insbesondere die Dauer des gemeinsamen Zusammenlebens, die Qualität der Beziehung sowie die gegenüber dem Kind wahrgenommene Rolle des Erwachsenen ausschlaggebend (vgl. supra E. 1.2.4). Die Vorinstanz unterlässt es vorliegend, die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihren Enkeln, insbesondere zu ihrem Enkel C. , auch unter diesem Blickwinkel von Art. 8 EMRK zu prüfen und die dafür notwendigen Sachverhaltsfeststellungen zu treffen. Sie hält weder fest, wie lange C. bereits bei seinen Grosseltern wohnt, noch wie sich diese Betreuung konkret ausgestaltet und welche Rolle die Beschwerdeführerin in seinem Leben einnimmt. Damit kommt die Vorinstanz in diesem Punkt ihrer Begründungspflicht nicht genügend nach.
Indem es im vorinstanzlichen Urteil an Sachverhaltsfeststellungen zum konkreten Verhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Enkeln, insbesondere C. , mangelt, lässt sich nicht beurteilen, ob der Schutzbereich von Art. 8 EMRK betroffen ist. Die blosse Feststellung der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin habe gegenüber ihren Enkelkindern, insbesondere gegenüber C. , zweifellos eine besondere Stellung (vgl. angefochtenes Urteil S. 33), genügt in dieser Hinsicht nicht. Gestützt auf das bisherige Sachverhaltsfundament kann die ausgesprochene Landesverweisung nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden, weshalb die Vorinstanz Bundesrecht verletzt (E. 1.4.3).
Die Landesverweisung ist damit nicht vom Tisch. Sie konnte aufgrund des erhobenen Sachverhaltsfundaments nicht einmal überprüft werden. Eigentlich ist das ein recht harter Vorwurf gegen das Obergericht.
Muss man jetzt wegen der Landesverweisung auch noch ein umfassendes Beweisverfahren durchführen?
@DR: Nein, das wäre ja verrückt. Einfach rauswerfen, die meisten wehren sich ja ohnehin nicht.
Meine Frage war trotz zynischer Antwort ernst gemeint. Muss man Zeugen befragen, die zwar zum Delikt nichts sagen können, aber evtl. zur Integration? Das würde den Strafprozess erheblich ausdehnen.
@DR: Gesetze tun das regelmässig. Bestes Beispiel ist die Landesverweisung.