Landesverweisung 2 – FZA 0
Das Bundesgericht publiziert heute zwei Urteile zur strafrechtlichen Landesverweisung von EU-Bürgern. In beiden Fällen entscheidet es pro Ausschaffung (vgl. BGE 6B_235/2018 vom 01.11.2018, Publikation in der AS vorgesehen und BGer 6B_1152/2017 vom 28.11.2018).
Im zu publizierenden Entscheid äussert sich das Bundesgericht zunächst zum Verhältnis zwischen Landes- und Völkerrecht und findet einen Weg, das Landesrecht völkerrechtskonform auszulegen. Sein Obersatz scheint wie folgt zu lauten:
Das FZA enthält keine strafrechtlichen Bestimmungen und ist kein strafrechtliches Abkommen. Mit dem FZA vereinbarte die Schweiz – pointiert formuliert – keine Freizügigkeit für kriminelle Ausländer (E. 3.3).
Damit ist der Weg vorgezeichnet:
Kommt das Strafgericht landesrechtlich zu einem Ergebnis, das sich als mit dem FZA kompatibel erweist, ist das FZA offenkundig nicht verletzt. […]. Lässt sich Landesrecht völkerrechtskonform anwenden, stellt sich die Frage einer Normenhierarchie nicht. Diese kann offenbleiben. Das Strafgericht hat zunächst das ihm vertraute Landesrecht anzuwenden (E. 4.1).
So führt kein Weg mehr am Ergebnis der Landesverweisung vorbei:
Mit dem Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung ist nicht gemeint, dass weitere Straftaten mit Gewissheit zu erwarten sind oder umgekehrt solche mit Sicherheit auszuschliessen sein müssten (Urteil 2C_108/2016 vom 7. September 2016 E. 2.3). Allerdings sind Begrenzungen der Freizügigkeit im Sinne von Art. 5 Anhang I FZA einschränkend auszulegen; es kann etwa nicht lediglich auf den „ordre public“ verwiesen werden, ungeachtet einer Störung der sozialen Ordnung, wie sie jede Straftat darstellt (BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 125 f.). Art. 5 Anhang I FZA steht Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen verfügt werden (Urteil 2C_406/2014 vom 2. Juli 2015 E. 2.3). Das ist in casu nicht der Fall. Bei strafrechtlichen Verurteilungen verlangt der EuGH eine spezifische Prüfung unter dem Blickwinkel der dem Schutz der öffentlichen Ordnung innewohnenden Interessen; eine frühere strafrechtliche Verurteilung darf nur insoweit berücksichtigt werden, als die zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183 f.). Diese spezifische Prüfung hat die Vorinstanz vorgenommen (E. 4.4, Hervorhebungen durch mich).
Im zweiten Entscheid kassierte das Bundesgericht einen Entscheid des Obergerichts ZH, wonach das FZA einer Landesverweisung entgegenstehe:
Zusammengefasst hielt sich der Beschwerdegegner nicht „rechtmässig“ im Sinne des FZA in der Schweiz auf (und wurde dreimal strafrechtlich verurteilt). Daran ändert auch das den Unionsbürgern von der Schweiz völkervertragsrechtlich eingeräumte Einreiserecht, wie es in BGE 143 IV 97 dargelegt wird, nichts. Das Völkerrecht ist nicht auf einen systematischen Schutz gegen eine Landesverweisung nach Art. 66a StGB angelegt; das gilt ebenso für das FZA (GLESS/PETRIG/TOBLER, a.a.O., S. 103). Da der Beschwerdegegner über kein Aufenthaltsrecht verfügte, hat die Vorinstanz zu Unrecht entschieden, das FZA stehe einer Landesverweisung nach Art. 66a StGB entgegen. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen (E. 2.6)..
Mit dieser Begründung konnte das Bundesgericht die Frage nach dem Verhältnis zwischen FZA und Landesverweisung einmal mehr umgehen:
Die von der Beschwerdeführerin und dem Beschwerdegegner aufgeworfene Vorrangfrage zwischen dem Freizügigkeitsabkommen (Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit [FZA; SR 0.142.112.681]) und Art. 66a StGB braucht vorliegend aus den nachfolgenden Erwägungen nicht entschieden zu werden (E. 2.5).