Lebenslänglich ist nicht genug
Das Bundesgericht hat die Begründung des öffentlich verhandelten Beschwerdesache ins Netz gestellt (BGE 6B_513/2015 vom 04.02.2016). Danach ist es zulässig, nebst einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe die Verwahrung anzuordnen.
Das Bundesgericht kann dem Gesetz gute Gründe für seinen Entscheid entnehmen. Es lässt es sich aber nicht nehmen, sich als Hüter der öffentlichen Sicherheit darzustellen und sogar noch auf das Risiko von Fehlprognosen einzuwirken, die sich in frühestens 15 Jahren vielleicht einmal verwirklichen könnten:
In Anbetracht der aufgeführten Unterschiede ist es zum Schutz der öffentlichen Sicherheit geboten, neben der lebenslänglichen Freiheitsstrafe eine Verwahrung anzuordnen, wenn die Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Da im Fall der Anordnung einer Verwahrung neben der Freiheitsstrafe die Anforderungen an die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug formell und materiell höher und die Anforderungen an die Rückversetzung in den Strafvollzug weniger hoch sind als bei einer Freiheitsstrafe ohne gleichzeitige Anordnung einer Verwahrung, werden im Falle der Anordnung einer Verwahrung einerseits das Risiko von Fehlprognosen beim Entscheid über die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug und andererseits das Risiko von Straftaten nach der bedingten Entlassung verringert (E. 2.6).
Die eine oder andere Erwägung hätte das Bundesgericht besser weggelassen, insbesondere die folgende:
Hinzu kommt Folgendes: Könnte das Gericht gegenüber einem zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilten Täter, der gefährlich ist, keine Verwahrung anordnen, so könnte auch die Rechtsmittelinstanz, welche in Gutheissung der Berufung des Verurteilten die lebenslängliche durch eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe ersetzt, wegen des Verbots der “reformatio in peius” keine Verwahrung anordnen, wenn die Staatsanwaltschaft nicht ihrerseits ein Rechtsmittel ergriffen und darin die Anordnung der Verwahrung beantragt hätte (E. 2.9).
Der theoretische Teil mag im Ergebnis vielleicht ja noch den einen oder anderen zu überzeugen. Im konkreten Einzelfall setzt sich das Bundesgericht dann aber auch noch über die Empfehlungen der Gutachter hinweg, um die Verwahrung schützen zu können. Ein erstes Gutachten hat sich zur Verwahrung gar nicht geäussert, ein zweites hat sie nicht empfohlen:
Die Anordnung einer ambulanten Behandlung während des Strafvollzugs ficht der Beschwerdeführer nicht an und ist daher nicht zu überprüfen. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auch nicht zu prüfen, ob es möglich beziehungsweise zulässig ist, zugleich sowohl eine strafvollzugsbegleitende ambulante Behandlung gemäss Art. 63 Abs. 1 StGB als auch eine Verwahrung im Sinne von Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB anzuordnen. Zu prüfen ist einzig die Verwahrung.
Die Anordnung der Verwahrung durch die Vorinstanz verstösst nicht gegen Bundesrecht. Der Gutachter hat die Wahrscheinlichkeit und die Art weiterer Delikte zu erörtern. Die Frage, ob der Täter zu verwahren ist, ist hingegen vom Gericht zu entscheiden (…). Die beiden Gutachter sind übereinstimmend der Auffassung, dass aufgrund der Persönlichkeitsmerkmale des Beschwerdeführers eine erhebliche Gefahr der Verübung weiterer Straftaten dieser Art besteht. Damit sind die Voraussetzungen für die Anordnung einer Verwahrung gemäss Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB erfüllt (E. 3.4).
Der Fall wurde an der öffentlichen Beratung kontrovers diskutiert und das Resultat fiel knapp aus. Bei der Abstimmung stimmten zwei Richter für die Gutheissung der Beschwerde und drei dagegen.
Danke für die wertvolle Zusatzinformation.
Wurde von Gerichten in anderen Fällen nicht auch schon vertreten, eine Verwahrung als “blosse Massnahme” könne gar nicht unter das Verbot der reformatio in peius fallen, weil sich dieses nur auf Strafen beziehe und Massnahmen ja keine Strafen seien?
S. BGE 123 IV 1, E 4 c) m.w.H.
Ist natürlich Humbug, aber es erstaunt mich doch, dass das Bundesgericht sich so eindeutig zu dieser Frage, ohne dass es im ihm vorgelegten Fall zwingend notwendig gewesen wäre.
Tatsächlich. Der 123er-Entscheid war mir nicht bekannt.
Insbesondere diese Passage aus dem 123er-Entscheid scheint E. 2.9 von BGE 6B_513/2015 klar zu widersprechen:
“Entscheidend jedoch ist, dass eine Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB angeordnet werden muss, wenn diese Massnahme notwendig ist. Gesichtspunkte des Grundsatzes des Verbots der reformatio in peius sind nicht massgeblich (vgl. BGE 117 IV 40 E. 2b; ferner Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 26. Juni 1973, ZR 73/1974 Nr. 54).”
Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn das Bundesgericht diese (kaum verständliche) Sichtweise nun (unabsichtlich?) korrigiert hat. Wobei, findige Staatsanwälte und Richter werden wohl sagen, es handle sich ja bei der Aussage im neuen Entscheid lediglich um ein obiter dictum im Rahmen einer Alternativbegründung.