L’état c’est moi

Ein neuer Bundesgerichtsentscheid liest sich wie ein Bericht zur Lage der Nation in Sachen Rechtssetzung, Rechtsprechung und Gewaltentrennung (BGer 1B_569/2018 vom 28.01.2019).

Das Bundesgericht stellt sich gegen die fundierte Kritik an seiner Rechtsprechung und beruft sich darauf, dass der Gesetzgeber (mit Gesetzgeber ist der Bundesrat gemeint) “seine Anregung” (wessen Anregung genau?) aufgenommen habe.


Das Bundesgericht hat in mehreren Entscheiden [die alle aus derselben Feder stammen] festgestellt, dass de lege ferenda detailliertere einschlägige Regeln zur vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft aus Gründen der Rechtssicherheit zu wünschen sind (so ausdrücklich Urteile 1B_204/2018 vom 15. Mai 2018 E. 4.2; 1B_270/2017 vom 28. Juli 2017 E. 6; 1B_371/2016 vom 11. November 2016 E. 5.2; vgl. kritisch zur bisherigen Gesetzesgrundlage auch MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar StGB, 3. Aufl. 2013, Art. 63b N. 23; Alain Joset/Markus Husmann, Freiheitsentzug jenseits des Rechts – eine Kritik der “vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft”, forumpoenale 2016 Nr. 3, S. 165 ff.). Der Gesetzgeber hat die Anregung des Bundesgerichtes aufgenommen: Der bundesrätliche Vorentwurf zur Teilrevision der StPO (2017) sieht den Erlass von spezifischen haftrechtlichen Bestimmungen für das massnahmenrechtliche gerichtliche Nachverfahren vor (Art. 364a und Art. 364b VE/StPO). Die vorgeschlagene spezifische Regelung der materiellen Haftgründe im Nachverfahren lehnt sich an die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtes an (Art. 364a Abs. 1 VE/StPO; vgl. Urteile 1B_486/2018 vom 22. November 2018 E. 7; 1B_204/2018 E. 3.1; Marc Forster, Gemeingefährliches Haftrecht? Zur Teilrevision des strafprozessualen Haftrechts gemäss dem Vorentwurf von 2017, Jusletter 26. März 2018, Rz. 41 und Fn. 64) [E. 3, Hervorhebungen und Klammerbemerkungen durch mich].

Was mich fast noch mehr stört sind die Ausführungen zu den Anforderungen an den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Diese entsprechen zwar der langjährigen Rechtsprechung. Sie sind aber schlicht und ergreifend falsch, u.a. weil sie auf einem logischen Fehlschluss beruhen und empirisch nicht belegbar sind. Dieser wird nicht richtiger, wenn man das ganze nur als Regelannahme deklariert:

In der Regel erscheint die Gefährdung der Sicherheit anderer umso höher, je schwerer die drohende Tat wiegt [ach wirklich?]. Betreffend die Anforderungen an die Rückfallgefahr gilt hingegen eine umgekehrte Proportionalität. Dies bedeutet, je schwerer die drohenden Taten sind und [“und” basiert ja eben auf der falschen Prämisse] je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr [wo steht das?] zu stellen. Liegen die Tatschwere und die Sicherheitsrelevanz am oberen Ende der Skala, so ist die Messlatte zur Annahme einer rechtserheblichen Rückfallgefahr tiefer anzusetzen. Zugleich ist daran festzuhalten, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv zu handhaben ist [ja dann ist ja alles wieder gut]. Hieraus folgt, dass eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend ist (BGE 143 IV 9 E. 2.8-2.10 S. 16 f. mit Hinweisen). Besonders bei drohenden schweren Gewaltverbrechen ist dabei auch dem psychischen Zustand der verdächtigen bzw. verurteilten Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität Rechnung zu tragen (BGE 143 IV 9 E. 2.8 S. 16; 140 IV 19 E. 2.1.1 S. 21 f.; je mit Hinweisen) [E. 4.2, Hervorhebungen und Klammerbemerkungen durch mich].

Damit ist dann einfach alles begründbar. Es hat aber auch nie jemand ernsthaft behauptet, die Jurisprudenz sei eine Wissenschaft.