Man kann’s ja mal versuchen …

… wird sich das Obergericht AG gedacht haben und ist auf zwei Laien-Berufungserklärungen mangels Berufungsanmeldungen nicht eingetreten war (BGer 6B_425/2020 und BGer 6B_426/2020, beide vom 10.03.2021). Die erste Instanz hatte dem Betroffenen mit dem Urteilsdispositiv eine mehrseitige “Kurzbegründung” mitgeliefert. Er hat dann innert 20 (aber nicht innert 10) Tagen eine “Berufung” eingereicht. Das Bundesgericht kassiert und weist zurück.

Wie der Beschwerdeführer zurecht vorbringt, ist die im Urteilsdispositiv enthaltene Rechtsmittelbelehrung nicht auf die Zustellung eines Dispositivs zusammen mit einer “Kurzbegründung” zugeschnitten. Das zugestellte Dispositiv sowie die “Kurzbegründung” machten zusammen 16 Seiten aus und die “Kurzbegründung” wich hinsichtlich Sprachgebrauch und Begründungsdichte kaum von einer Urteilsbegründung ab. Auch unter Berücksichtigung der fehlenden Unterschrift auf der Kurzbegründung ist nicht davon auszugehen, dass es für den Beschwerdeführer als juristischen Laien ohne anwaltliche Vertretung ersichtlich war, dass ein Urteilsdispositiv mit einer “Kurzbegründung” von einem begründeten Urteil zu unterscheiden ist. Das zugestellte Urteilsdispositiv und die “Kurzbegründung” waren geeignet, beim Beschwerdeführer den Anschein zu erwecken, dass es sich bereits um die schriftliche Begründung des Urteils handelte und er damit innert Rechtsmittelfrist von 20 Tagen Berufung bei der Vorinstanz einzureichen hatte.  Gemäss Art. 2 Abs. 2 StPO können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden. Die Erstinstanz hat mit der Zustellung des Dispositivs zusammen mit einer “Kurzbegründung” die in Art. 399 Abs. 1 und 3 StPO vorgenommene Abgrenzung zwischen der Zustellung des Dispositivs und der Zustellung des begründeten Urteils nicht beachtet. Der beim Beschwerdeführer dadurch erweckte Anschein ist nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäss Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO nicht dem Beschwerdeführer anzulasten. Die Vorinstanz verletzt demnach Bundesrecht, wenn sie auf die Berufung des Beschwerdeführers wegen Fristversäumnis zur Einreichung der Berufungsanmeldung bei der Erstinstanz nicht eintritt (E. 1.5). 

Ab wann wäre ein Verhalten von Magistratspersonen gegenüber einem Laien nicht mehr bloss eine Treuwidrigkeit?