Massnahmenverfahren: serienweise Verletzung von Bundesrecht
Nach 19 Jahren beantragte ein Verwahrter bei den bernischen Vollzugsbehörden erfolglos die Aufhebung der bzw. die bedingte Entlassung aus der Massnahme. Selbst das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde nur teilweise gutgeheissen. Bei seinem Entscheid sind dem Obergericht BE aber etliche Rechtsfehler unterlaufen, die das Bundesgericht nun benennt (BGer 6B_280/2020 und 6B_419/2021 vom 27.05.2021).
Die Vorinstanz hat zunächst nicht geprüft, ob die Verwahrung überhaupt noch verhältnismässig ist:
Eine umfassende und sorgfältige Prüfung der Verhältnismässigkeit der weiteren Verwahrung des Beschwerdeführers, wie sie gestützt auf Art. 56 Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 StGB auch im Rahmen der Prüfung der bedingten Entlassung vorzunehmen ist (vgl. E. 3.3.3), findet sich jedoch in ihrem Beschluss nicht. Dies ist angesichts der zu beurteilenden Ausgangslage nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hat im Alter von 19 Jahren unter Drogen- und Alkoholeinfluss die Anlasstat (mehrfach versuchte schwere Körperverletzung) begangen, wobei dem vorinstanzlichen Beschluss nichts zu den konkreten Tatumständen zu entnehmen ist. Zwar trifft der vorinstanzliche Hinweis, dass die Verwahrung an keine Höchstgrenze gebunden ist, zu. Jedoch erscheint bereits aufgrund der Dauer des Freiheitsentzugs von mehr als 21 Jahren eine sorgfältige und vertiefte Prüfung der Verhältnismässigkeit als zwingend notwendig (E. 3.4.2).
Bei der Beurteilung der Voraussetzungen der bedingten Entlassung beschränkte sich die Vorinstanz auf das Vollzugsverhalten, was dem Bundesrecht ebenfalls nicht genügt (vgl. dazu E. 3.4.3 f.):
Vielmehr müsste sich die Vorinstanz gestützt auf ein Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen (vgl. Art. 64b Abs. 2 lit. b i.V.m. Art. 56 Abs. 4 StGB), welches den bundesgerichtlichen Anforderungen genügt (vgl. E. 3.3.5), zu der Legalprognose des Beschwerdeführers und damit dazu äussern, ob und gegebenenfalls welche Delikte im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB vom Beschwerdeführer mit welcher Wahrscheinlichkeit in Freiheit zu erwarten sind (vgl. E. 3.3.5) [E. 3.4.3].
[…]
Die richterliche Überprüfung bzw. Kontrolle des Gutachtens hat sich deshalb nicht nur auf das ermittelte Prognoseergebnis als solches zu beziehen, sondern muss sich auf die Qualität der gesamten Prognosestellung inklusive der vom Sachverständigen allenfalls verwendeten Prognoseinstrumente erstrecken. Das Gericht muss im Ergebnis eine eigenständige Beurteilung des Sachverständigenbeweises im Hinblick auf die Einbeziehung aller für die Begutachtung relevanten Umstände vornehmen, damit es gestützt darauf einen eigenverantwortlichen Entscheid zur Gefährlichkeit treffen kann (Urteile 6B_1147/2018 vom 25. März 2019 E. 1.3.2; 6B_257/2018 vom 12. Dezember 2018 E. 7.4.2; 6B_424/2015 vom 4. Dezember 2015 E. 2.3 mit Hinweis) [E. 3.3.5)].
Auch die Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot hat das Obergericht BE nicht beachtet:
Die Zeitdauer zwischen dem erstmaligen schriftlichen Gesuch des Beschwerdeführers um bedingte Entlassung aus der Verwahrung vom 16. Dezember 2019 und dem angefochtenen Beschluss vom 8. März 2021 beträgt etwas weniger als 15 Monate, wobei das vorinstanzliche Verfahren mit knapp acht Monaten mehr als die Hälfte der gesamten Verfahrensdauer ausmacht. Dem vorinstanzlichen Beschluss ist keine Begründung zur Rechtfertigung dieser langen Verfahrensdauer zu entnehmen. Nicht beurteilt werden muss, ob die Vorinstanz eine Rechtsverzögerung im verwaltungsinternen Verfahren zu Recht verneint (…). Wie der Beschwerdeführer zutreffend vorbringt, hätte die Vorinstanz bei der Beurteilung seiner Rüge auch die eigene Verfahrensdauer berücksichtigen müssen (…). Vor diesem Hintergrund, mit Blick auf die genannte Rechtsprechung und in Anbetracht der vorliegenden Umstände (kein neues Gutachten, schriftliches Verfahren) lässt sich die Verfahrensdauer nicht mit der “kurzen Frist” von Art. 5 Ziff. 4 EMRK vereinbaren (…). Nachdem die weiteren Rügen des Beschwerdeführers grösstenteils begründet und die Sache in Aufhebung des vorinstanzlichen Beschlusses zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen ist, ist die Folge der Verfahrensverzögerung zurzeit noch nicht absehbar. Die Vorinstanz wird sich damit nach ihrem erneuten Entscheid in der Sache auseinandersetzen und das Entschädigungsbegehren des Beschwerdeführers beurteilen müssen. Ferner hat sie die Verletzung des Beschleunigungsgebots im Dispositiv ihres neuen Beschlusses festzuhalten (E. 4.3, Hervorhebungen durch mich).
Und schliesslich war auch der Kostenentscheid bundesrechtswidrig:
Die Vorinstanz wird die Verlegung der Kosten und der Entschädigungen bereits aufgrund der Verletzung des Beschleunigungsgebots neu vornehmen müssen. Ferner kann sich auch ihre neue Entscheidung hinsichtlich der Frage der (bedingten) Entlassung des Beschwerdeführers auf die Kosten- und Entschädigungsfolgen sowie insbesondere die Beurteilung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege auswirken, weshalb die diesbezügliche Rüge grundsätzlich offengelassen werden könnte. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich jedoch, sie zu prüfen. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz erweisen sich das Gesuch um bedingte Entlassung und die Beschwerde (n) gegen dessen Abweisung nicht als von vornherein aussichtslos. Einerseits kann ein – soweit ersichtlich – erstmals nach 21 Jahren Freiheitsentzug gestelltes Gesuch um bedingte Entlassung angesichts der konkreten Umstände nicht als von vornherein aussichtslos bezeichnet werden (vgl. E. 3.4.2 f.). Andererseits waren die kantonalen Beschwerden auch deshalb nicht von vornherein aussichtslos, weil sich die jeweiligen Vorinstanzen (BVD resp. SID) nicht hinreichend mit den Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung und der Frage der Verhältnismässigkeit auseinandergesetzt hatten. Damit erweist sich auch die Rüge gegen die teilweise Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege als begründet (E. 5.4, Hervorhebungen durch mich).
Schade, dass dieser Entscheid nicht publiziert wird, denn er zeigt die in der kantonalen Praxis immer wieder festzustellenden Mängel beispielhaft auf. Leider ist das Bundesgericht selbst aber auch nicht immer so klar und konsequent wie in diesem Urteil.