Medizinische Realprognose c. gerichtliche Legalprognose

Das Bundesgericht äussert sich in einem zur BGE-Publikation vorgesehenen neuen Urteil zur Verwertbarkeit von Vorstrafen bei Strafzumessung und Prognosebeurteilung (BGer 6B_538/2008 vom 07.01.2009). Es unterscheidet drei Konstellationen:

  • reguläre Entfernung von Verurteilungen nach Ablauf einer bestimmten Frist;
  • Entfernung altrechtlicher Eintragungen aufgrund übergangsrechtlicher Gesetzesanordnung;
  • nicht eintragungspflichtigen Delikte.

Nach Art. 369 Abs. 7 StGB dürfen aus dem Strafregister zufolge Zeitablaufs entfernte Strafen nicht verwertet werden, und zwar weder bei der Strafzumessung noch bei der Prognosebeurteilung.  Dieses Verwertungsverbot gilt hingegen nicht für den Gutachter, der sich zur medizinischen Realprognose zu äussern hat:  

Im Gegensatz zu den Strafbehörden dürfen die medizinischen Gutachter somit aktenkundige Hinweise auf entfernte Strafen und insbesondere frühere Gutachten berücksichtigen. Es ist insofern zwischen (medizinischer) Realprognose und (gerichtlicher) Legalprognose zu unterscheiden. Um eine Umgehung des gerichtlichen Verwertungsverbots gemäss Art. 369 Abs. 7 StGB zu verhindern, muss in der Begutachtung jedoch offengelegt werden, inwiefern die frühere mit der neu zu beurteilenden Delinquenz in Zusammenhang steht (Konnexität) und wie stark sich diese weit zurück liegenden Taten noch auf das gutachterliche Realprognoseurteil auswirkt (Relevanz). So kann auch für die gerichtliche Beurteilung gewährleistet werden, dass allfällige Schlechtprognosen nur im Umfang der noch eingetragenen Vorverurteilungen berücksichtigt werden (vgl. BGH, NJW 1973, S. 815) (E. 2.5).

Keinem Verwertungsverbot unterliegen demgegenüber aus dem Register entfernte Jugendstrafen gemäss Ziff. 3 Abs. 2 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 13. Dezember 2002.

Zur Dauer der Verwertbarkeit nicht eintragungspflichtiger Delikte (nicht eintragungspflichtige Übertretungen und Jugendstrafen, kantonalrechtliche Straftatbestände) äussert sich das Gesetz nicht. Das Bundesgericht erkennt auf sinngemässe Anwendung von Art 369 StGB:

 

Es drängt sich auf, diese 10-jährige Minimalfrist bei eintragungspflichtigen Verurteilungen zugleich als absolute Maximalfrist festzusetzen, während der nicht eintragungspflichtige Verurteilungen noch verwertet werden dürfen. Je näher nicht eintragungspflichtige Verurteilungen diesem Fristablauf kommen, desto höher sind die Rehabiltitierungs- und Resozialisierungsinteressen sowie bei Jugendstrafen der Umstand zu gewichten, dass diese Taten im Jugendalter begangen wurden. Je länger die zugrunde liegenden Taten zurückliegen, desto weniger dürfen Urteile zu Lasten des Betroffenen verwertet werden. Diese Verwertbarkeitsbeschränkung bei nicht registrierungspflichtigen Delikten wird in Deutschland auch mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip und dem Bewährungsgedanken begründet (Rebmann/ Uhlig, op.cit., § 51 N 11 ff. m.H.a. BVerwG vom 17. Dezember 1976 – VII C 27.74; Götz/Gudrun, op.cit., § 51 N 40 ff.) (E. 4).
Für den Betroffenen ist der Entscheid insofern ärgerlich, als das Bundesgericht feststellt, die Vorinstanz habe Vorstrafen des Beschwerdeführers zu Unrecht nicht berücksichtigt (E. 5). Das “reformatio”-Problem löst das Bundesgericht wie folgt:
[Der vorinstanzliche] Strafzumessungsfehler führt – für sich genommen – nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, zumal das Bundesgericht nicht über die Begehren der Partei hinausgehen darf (Art. 107 Abs. 1 BGG). Die Staatsanwaltschaft hat keine Beschwerde erhoben. Indessen macht der Beschwerdeführer zu Recht geltend, dass seine im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachte (…), belegte (…) und angesichts seiner finanziellen Verhältnisse beachtliche Wiedergutmachungszahlung von Fr. 11’421.10 keinen Niederschlag in der Strafzumessung fand. Damit wurden Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 47 StGB verletzt. Aus diesem Grund ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei der Neubeurteilung wird die Vorinstanz die einschlägigen Jugendstrafen straferhöhend, die Wiedergutmachungsbemühungen strafmindernd berücksichtigen. Ferner wird sie die persönliche und berufliche Entwicklung sowie die Beziehungssituation des Beschwerdeführers nach dem aktuellen Stand neu einzuschätzen haben (vgl. Beschwerde S. 3 f.). Bei der erneuten Strafzumessung wird sie insgesamt zwar eine tiefere, aber keine höhere als die bisher ausgesprochene 3 ½-jährige Freiheitsstrafe ausfällen dürfen. Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus der Bindung an die Parteibegehren ein Verbot der reformatio in peius nach bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheiden (vgl. BGE 111 IV 51 E. 2; Urteil 6B_411/2007 vom 2. November 2007, E. 1.3) (E. 6).
Damit hat der Beschwerdeführer für sich selbst wohl kaum etwas erreicht. Er wird sich daran erfreuen müssen, vor Bundesgericht einen wertvollen Grundsatzentscheid errungen zu haben.