Milieukontrollen oder: von der polizeilichen Vorermittlung zur polizeilichen Ermittlung
Erneut weist das Bundesgericht darauf hin, dass die Grenze zwischen polizeirechtlicher und strafprozessualer Tätigkeit in der Praxis fliessend verlaufe, womit eine klare Trennung nicht immer möglich sei (BGer 6B_1136/2021 vom 07.11.2022). Das bedeutet im Ergebnis, dass die Polizei ohne strafprozessualen Tatverdacht mehr oder weniger beliebig herumschnüffeln darf (Milieukontrolle). Wenn dabei ein strafprozessualer Tatverdacht aufkommt, wird ihre Tätigkeit sogleich zur strafprozessualen. Die Milieukontrolle ist somit eine verdachtsfreie polizeiliche Vorermittlung, die dann unversehens zur polizeilichen Ermittlung nach Art. 306 f. StPO mutiert:
Die Grenze zwischen polizeirechtlicher und strafprozessualer Tätigkeit verläuft in der Praxis fliessend, und eine klare Trennung ist nicht immer möglich. Das entscheidende Abgrenzungskriterium für die Anwendbarkeit der StPO ist der strafprozessuale Anfangsverdacht (BGE 146 I 11 E. 4.1; 143 IV 27 E. 2.5; vgl. 140 I 353 E. 5.2; Urteile 6B_372/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 2.3.1; 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Übt die Polizei im Rahmen ihrer vom Gesetzgeber zugewiesenen Kernaufgaben zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor dem Vorliegen eines konkreten Tatverdachts und ohne Auftrag seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts Tätigkeiten im Bereich der Verbrechensverhütung aus, handelt es sich dabei um sog. polizeiliche Vorermittlungen. Diese sind unterhalb der Schwelle des strafprozessualen Tatverdachts – wie dies die Vorinstanz zutreffend ausführt – durchaus möglich (vgl. BGE 146 I 11 E. 4.1; BGE 140 I 353 E. 5 f.; Urteil 6B_372/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Solche polizeiliche Vorermittlungen werden nicht von den Bestimmungen der StPO zum Vorverfahren nach Art. 299 ff. StPO erfasst, sondern unterstehen dem kantonalen Polizeirecht (vgl. BGE 143 IV 27 E. 2.5; BGE 140 I 353 E. 5.5.1 und 5.5.2; je mit Hinweis). Ergibt sich aus dieser oder einer anderen allgemeinen Polizeitätigkeit ein Tatverdacht gegen eine bekannte oder unbekannte Täterschaft, richtet sich anschliessend die polizeiliche Tätigkeit nach der StPO und sie ermittelt nach Art. 306 ff. StPO (BGE 146 I 11 E. 4.1; vgl. 140 I 353 E. 5.5.1 f.; Urteile 6B_1409/2019 vom 4. März 2021 E. 1.5; 6B_372/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 2.3.1; je mit Hinweisen) {E. 4.4.2}.
Und weil die Polizei auch für ihre präventive Tätigkeit eine (kantonal-) gesetzliche Grundlage braucht, mutiert die Milieukontrolle kurzum zur kantonalrechtlichen Observation zur Verhinderung von Straftaten:
Das Polizeigesetz des Kantons Aargau regelt die (präventive) Observation in allgemein zugänglichen Orten zur Verhinderung von Straftaten (§ 35 in Kraft bis zum 30. Juni 2021, § 35a ab 1. Juli 2021) [E. 4.4.2].
Für die strafprozessuale Tätigkeit braucht die Polizei aber einen strafprozessualen Durchsuchungsbefehl, den sie sich dann nachträglich ausstellen lässt.
Merke: Du darfst präventiv mehr als Dir repressiv erlaubt ist. Bloss nicht zu früh Verdacht schöpfen, sonst gilt am Ende noch die StPO! Interessant dazu ist auch ein früherer Beitrag zu einem Entscheid, wo sich der Tatverdacht bereits vor Betreten des Lokals durch einen polizeilichen Blick durch die Scheibe des Lokals ergeben hatte.
Der Entscheid ist falsch, weil die Grundlage im Kantonalen Polizeigesetz, die präventive Observation, das Betreten eines Lokals nicht zulässt. Es sind zwar öffentliche oder allgemein zugängliche Orte erwähnt, aber meiner Ansicht nach fallen darunter nicht mehr vom Hausrecht geschütze Räume. Und auch dann würde es ja um die Observation von Personen gehen, nicht aber um das Ausspionieren von Räumlichkeiten. Ansonsten dürfte eine präventive Obersvation mehr, als eine strafprozessuale Observation, was völlige Unsinn ist, wenn man nach dem Schema bezüglich Grundrechtseingriff vorgeht. Das Bundesgericht tut sich schwer damit, eine saubere Linie zu fahren. Das ist bedauerlich…
Ein lokal, wie es im vorliegenden urteil geschildert ist, ist. m.e. allgemein zugänglich. Wo im prinzip jedermann hin kann, um ein bisschen zu schauen, sehe ich nicht ganz, warum die polizei nicht auch hin könnte/dürfte, um ein bisschen zu schauen. Anders wäre es an privaten orten, wo grundsätzlich nicht einfach jedermann hereinspazieren darf.
@Privat: Nein, das sieht die Rspr eigentlich anders. Privat halt.
In der neueren Rechtsprechung wird sinnvollerweise das Betreten eines öffentlich zugänglichen Lokals vom Zweck abhängig gemacht. Sie können nicht in einem Restaurant verweilen, ohne zu konsumieren. Ebenso sind auch wahllose Kontrollen nicht von so einem Zweck gedeckt.
@cd. Ok, fair enough. Aber da bewegen wir uns ja im klassischen polizeirecht (kantonal geregelt und nicht strafprozessual). Man müsste also prüfen, ob die getätigten kontrollen von einem öffentlichen interessen getragen und verhältnismässig oder aber “wahllos” i.s.v. übermässig, sprich unverhältnismässig, waren. Im letzten fall wäre die erhebung polizeirechtlich unzulässig gewesen.
@Privat: und dann stellt sich allenfalls noch die Frage, ob und wie polizeirechtlich gewonnene Erkenntnisse in ein Strafverfahren überführt werden.
Gott, wie schrecklich! Der Rechtsstaat in seinen Grundfesten erschüttert!
@pk: Du nervst!