Missbräuchliche Untersuchungsmethoden
In einem vom EFD geführten Verwaltungsstrafverfahren (Verdacht der Verletzung der Meldepflicht, Art. 37 GwG) ist ein eifriger Untersuchungsbeamten auf die glorreiche Idee gekommen, sich Akten, welche im Verwaltungsstrafverfahren versiegelt wurden, über ein Rechtshilfegesuch bei der FINMA zu beschaffen.
Das Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, sieht darin Rechtsmissbrauch und versetzt den übereifrigen Beamten in den Ausstand (BStGer BV.2019.2 vom 19.04.2019):
4.2.3 Von der Siegelung im Verwaltungsstrafverfahren Nr. 442-3-082 des EFD betroffen waren zum Zeitpunkt als F. Einsicht in die Akten bei der FINMA nahm, nebst den Berichten von der Anwaltskanzlei D. auch deren Beilagen (vgl. supra lit. B sowie Beschluss BE.2018.3 des Bundesstrafgerichts vom 13. September 2018). Mithin erlangte F. Einsicht in Dokumente, die Gegenstand eines im Rahmen des Verwaltungsstrafverfahrens Nr. 442-3-082 laufenden Entsiegelungsverfahrens waren. Die Auffassung des Beschwerdegegners, wonach Gegenstand der Siegelung einzig die zwei privat verschlüsselten Datenträger gewesen seien und nicht die sich im Besitz der FINMA befindenden physischen Originale und Kopien der Beilagen zu den Berichten von der Anwaltskanzlei D., trifft insofern zu, als rein formell und physisch tatsächlich nur die beiden Datenträger versiegelt worden sind. Der Sinn und Zweck der Siegelung ist es jedoch, dass die Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden keine Kenntnis vom Inhalt der versiegelten Aufzeichnungen oder Gegenstände erhalten. Dies gilt solange der zuständige Entsiegelungsrichter nicht über die Zulässigkeit deren Durchsuchung entschieden hat (Urteil des Bundesgerichts 1B_241/2008 vom 26. Februar 2009 E. 4.1). Schutzobjekt der Siegelung ist der Inhalt eines Dokuments oder einer Aufzeichnung und nicht das physische Dokument oder der Datenträger an sich. Das Recht auf Siegelung muss auf die prozessualen Rechte, sich gegen eine Beschlagnahme zu wehren, abgestimmt werden, was sich ohne Weiteres aus Art. 264 Abs. 3 StPO ergibt (vgl. Keller, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], StPO-Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 248; auch für über das Beschlagnahmeverbot hinausgehenden Schutz: Thomann/Brechbühl, Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 248). Daraus erhellt, dass die Ausdehnung des Beschlagnahmeverbots von dem Geheimhaltungsschutz unterstehenden Unterlagen (Art. 264 Abs. 1 lit. a-d StPO) auf jeglichen Auffindungsort ihren Niederschlag im Bereich des Rechtsbehelfs der Siegelung haben muss. Gelten aber Beschlagnahmeverbote unabhängig vom Ort, wo sich die Dokumente oder Aufzeichnungen befinden (BGE 138 IV 225 E. 61; Urteil des Bundesgerichts 1B_167/2015 vom 30. Juni 2015 E. 3.1), so gilt dies von der Zweckrichtung her auch für den durch die Siegelung gewährten Rechtsschutz. Existieren von versiegelten Dokumenten identische Kopien, die ihrerseits nicht versiegelt sind, versteht es sich von selbst, dass die Behörden, solange über die Entsiegelung noch nicht rechtskräftig entschieden ist, auch keine Kenntnis vom Inhalt der nicht versiegelten Kopien erhalten sollen, ansonsten die Siegelung ihres Sinnes und Zwecks entleert würde. Mit Beschluss BV.2018.29 vom 29. Februar 2019 hat das Bundesstrafgericht entschieden, dass die Kopie eines Dokuments, dessen Entsiegelung abgelehnt wurde, nicht beschlagnahmt werden dürfe (E. 2.6). Als Konsequenz wurde dessen Entfernung sowie die Vernichtung allfälliger Kopien angeordnet (E. 3).
4.2.4 Versuchen die Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden während eines laufenden Entsiegelungsverfahrens auf andere Weise – wie vorliegend durch rechtshilfeweisen Aktenbeizug – Kenntnis vom Inhalt von wissentlich versiegelten Dokumenten zu erhalten, kommt dies einer Umgehung der Siegelung und eines Aushebelns des im Zusammenhang mit der Sieglung bestehenden Rechtsschutzes gleich. Derartiges Verhalten einer Behörde ist als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren. F. hatte als untersuchender Beamter im Verwaltungsstrafverfahren Nr. 442-3-082 vom laufenden Entsiegelungsverfahren bzw. vom hängigen Beschwerdeverfahren beim Bundesgericht Kenntnis, als er am 6. Dezember 2018 in den Büroräumlichkeiten der FINMA Einsicht in die Beilagen der Berichte von der Anwaltskanzlei D. nahm. Ebenso wusste er darum, dass der Beschwerdeführer Teilnahmerechte im betreffenden Entsiegelungsverfahren geltend machte. Damit umging er jedoch klar das Entsiegelungsverfahren. Daran ändert auch der Einwand des Beschwerdegegners, die übermittelten Rechtshilfeunterlagen hätten sich «offensichtlich nicht im Schutzbereich des implizit geltend gemachten Anwaltsgeheimnisses» befunden (act. 6 S. 3 f.), nichts. Die übermittelten Rechtshilfeunterlagen bzw. deren Inhalt waren unbestrittenermassen Gegenstand des laufenden Entsiegelungsverfahrens. Es liegt einzig in der Zuständigkeit und Kompetenz des Entsiegelungsrichters darüber zu befinden, ob die versiegelten Dokumente bzw. Aufzeichnungen in den Schutzbereich des Anwaltsgeheimnisses fallen oder nicht. Die Einsichtnahme des untersuchenden Beamten F. in Dokumente, im Wissen darum, dass deren Inhalt Gegenstand eines Entsiegelungsverfahrens ist, stellt damit ein rechtsmissbräuchliches und gegen Treu und Glauben verstossendes Verhalten dar. Der Anschein der objektiven Befangenheit des untersuchenden Beamten F. ist damit zu bejahen. Ob in das Schlussprotokoll letztlich tatsächlich keine Erkenntnisse der Aktensichtung geflossen sind, wie der Beschwerdegegner behauptet, kann nicht überprüft werden, da dem Gericht das Schlussprotokoll nicht vorliegt. Ohnehin ist dieser Einwand für die Beurteilung der Befangenheit von F. ohne Belang. Alleine die Tatsache, dass der untersuchende Beamte in Umgehung des Siegelungsverfahrens Einsicht in den Akteninhalt genommen hat, genügt bereits, um objektiv eine Befangenheit von F. anzunehmen.
Im Ergebnis sicher richtig. Aber es zeigt, in welche absurde Richtung der Rechtsbehelf der Siegelung und die gesamte Diskussion führt. Ich plädiere für die ersatzlose Streichung von Art. 248 StPO. Viele kantonale Strafprozessordnungen kannten vor dem 01.01.2011 die Siegelung nicht. Und der Rechtsschutz funktionierte trotzdem. Heute ist die Siegelung ein Mittel zur Verfahrensverzögerung und -verhinderung. Von Rechtsschutz keine Spur. Ich erlebte das in einem aktuellen Jahr während dreieinhalb Jahren – erstinstanzlich, nota bene!
Die Siegelung ist der einzige wirksame Rechtsbehelf gegen unzulässige Durchsuchungen von Aufzeichnungen. Sie zu streichen müsste kompensiert werden. Wahrscheinlich durch eine Art Siegelungsverfahren.
Sollte man 248 Stpo streichen-so müsste man erst einmal die entsprechenden Durchsuchungsverfügungen ordentlich begründen. In den entsprechenden Entsiegungsanträgen muss sich die StWA erst einmal zum Tatverdach äussern und legt Sachverhalt unter die entsprechenden Normen. Regelmässig werden so die Durchsuchungsverfügungen nachträglich begründet. Was in den entsprechenden Verfügungen zur Durchsuchung nicht der Fall ist. Mann solle – bevor man 248 Stpo schreicht – auch den Fall Robartin gegen Österreich beachten.
Eine interessante Diskussion. Mir ist da in diesem Zusammenhang folgendes Zitat regelrecht in die Augen gestochen: NZZ am Sonntag, 02.06.2019:
«Häufig sind Versiegelungen eine taktische Massnahme der Verteidigung, um Zeit zu gewinnen», sagt Thomas Fingerhuth, Strafverteidiger aus Zürich, der nicht in den Fall involviert ist. So kann der Beschuldigte verhindern, dass die Staatsanwaltschaft das Material bei ihren Ermittlungen nutzen kann. Die Behörde kann im Gegenzug versuchen, die Freigabe gerichtlich zu erwirken. Dabei muss sie allerdings bis zu drei Instanzen durchlaufen – und das kann dauern. Bis ein abschliessendes Urteil des Bundesgerichts über die Entsiegelung vorliege, könne ein Jahr oder mehr verstreichen, sagt Strafverteidiger Fingerhuth. Entsiegelungen seien zwar im Prinzip eine Formalie. Falls das Bundesgericht die Interessen des Beschuldigten an einer Geheimhaltung höher gewichte, könne es die Unterlagen auch gesperrt lassen. «Das kommt zwar nicht oft vor, aber es kommt vor», sagt er.
Sollte das Zitat zutreffen, werden viele Siegelungen prozesstaktisch und damit rechtsmissbräuchlich eingesetzt, da der Rechtsbehelf zwecks Verfahrensverzögerung und nicht wegen berechtigten Geheimhaltungsinteressen angerufen wird. Das wird im übrigen auch durch die vielen Siegelungsverfahren mit Mitwirkungsverletzungen indiziert, offenbar sind die meisten Parteien, die siegeln, nicht einmal in der Lage, die Dokumente mit Geheimhaltungsinteressen überhaupt zu bezeichnen.
Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Rechtsbehelf gegen eine Durchsuchung braucht, zumal es bereits mehr als ausreichende Rechtsbehelfe gegen Beschlagnahmungen gibt, welche das Verfahren nicht lahmlegen können (Beschwerden gg. Beschlagnahmeverfügungen, Aktenaussonderungsanträge, etc. etc.). Letztlich ist ja nur verfahrensrelevant, was in den Akten ist (und als Beweismittel verwendet wird), und nicht, was durchsucht wird.Am Behindern der Justiz kann ja letztlich kein öffentliches Interesse bestehen.
“prozesstaktisch und damit rechtsmissbräuchlich”? Dann wäre ja Strafverteidigung, die ohne taktische Elemente nicht auskommt, an sich rechtsmissbräuchlich. Ihr Ansatz berücksichtigt im Übrigen nicht, dass jede Durchsuchung ein Eingriff in Grundrechte ist. Die Verfassung und ihre Grundrechte gelten m.W. auch in Strafverfahren. Sie können beschränkt werden, aber nicht über das Notwendige hinaus.
Ein Aspekt wird hier zu wenig beleuchtet. Ich war einmal in einem Finanzinstitut tätig, das in den Genuss einer Hausdurchsuchung gekommen ist. Die (über)eifrige Staatsanwältin war dann der Meinung, dass alle Akten in denen der Kundenname vorkommt, in das Verfahren gehören. Die Privatkläger in der Sache haben das natürlich unterstützt. Da der Kundenname auch auf Gesamt-Kundenlisten der Bank erschienen sind, hat also die Gefahr bestanden, dass die Privatkläger in den Besitz von detaillierten Kundenlisten einer Bank kommen. Notabene Daten, die gesetzlich geschützt sind. Die Siegelung hat also durchaus ihre Berechtigung und dient keineswegs nur dem Piesacken von Staatsanwälten.
Kann Herrn Jeker nur zustimmen. Es will sich mir nicht erschliessen, weshalb der Gebrauch strafprozessualer Mittel durch die Verteidigung jemals eine „Behinderung der Justiz“ darstellen sollen.
Meiner Meinung nach “darf” eine Person in unserer Rechtsordnung eben gerade nicht jedes Mittel einsetzen, nur weil es rein formell offensteht:
“Rechtsmissbrauch ist die nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilende zweckwidrige Inanspruchnahme einer eigentlich zustehenden Rechtsposition” (Wiki). Also eine eigentlich zulässige Rechtsposition, die aber Treu und Glauben widerspricht. Der offenbare Missbrauch eines Rechts findet dabei keinen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2 ZGB; diese Bestimmung hat bekanntlich eine Art “Verfassungsrang”).
Siegelungen wurden vom Gesetzgeber mit einem klaren Zweck geschaffen. Wenn ein Klient eine Siegelung nur anruft, nur um eine Verfahrensverzögerung zu bewirken, dann handelt der Klient rechtsmissbräuchlich. Durch rechtsmissbräuchliche Positionen wird die Justiz behindert, denn dadurch geht Zeit und Aufwand verloren.
Und nein, die Justiz ist nicht einfach nur ein abstraktes Gebilde bzw. Gedankenkonstrukt, dem es sowieso nichts ausmacht: Bspw. ist es für Geschädigte / Opfer extrem mühsam, wenn im Fall aus nicht nachvollziehbaren Gründen über Ewigkeiten nichts passiert.
Letztlich ist es aber eine politische Entscheidung, was man mit der Bestimmung machen will. Es wurden ja oben diverse Vorschläge geäussert.
Also naja: Das durch Sie skizzierte “rechtsmissbräuchliche Verhalten” dürfte in vielen Fällen schon daran scheitern, dass es sich oftmals (meistens?) um amtliche Mandate handelt. Und das ZMG entscheidet endgültig (in meinem Kanton regelmässig innerhalb von wenigen Tagen). Also stimmt das mit dem Lauf durch drei Instanzen schon mal nicht. Und ans Bundesgericht würde ich mich in einem amtlichen Mandat nur dann wagen, wenn die Sache nicht aussichtslos erscheint, was in “rechtmissbräuchlichen” Fällen ja immer gegeben sein dürfte. In der Praxis scheint mir diese Taktik – sollte sie tatsächlich eine sein – eher nicht brauchbar: Das ZMG entscheidet (zumindest hier) rasch und vor Bundesgericht bleibe ich auf meinen Kosten sitzen. Nein danke.
Das Siegelungsverfahren ist bestimmt noch nicht gänzlich ausgereift, aber unvermeidlich, wenn Berufsgeheimnisse, einige Grundrechte und dergleichen nicht blosse Ordnungsvorschrift sein sollen. Der Grundrechtseingriff erfolgt bereits mit der Durchsuchung und nicht nur mit der Verwertung des Beweismaterials. Hinzu kommt (der oft nur fromme Wunsch), dass ein Siegelungsverfahren ein gutes Instrument sein könnte, um sich etwas konkreter darüber zu unterhalten, wonach genau die Staatsanwaltschaft auf einem Datenträger wie einem Mobiltelefon aufgrund des bestehenden Tatverdachts überhaupt im Einzelfall suchen darf – im Lichte der Verhältnismässigkeit respektive Beweiseignung der zu durchsuchenden Daten.
Und wenn von Rechtsmissbrauch die Rede ist. Ist es bereits rechtsmissbräuchlich, wenn man das Siegelungsbegehren praktisch immer rein vorsorglich stellt, um überhaupt erst einmal mit dem Klienten ausgiebiger darüber sprechen zu können – insbesondere bevor dem in einer Einvernahme “irgendwas” vorgehalten wird? Und wie wird entschieden, ob ich gerade “rechtsmissbräuchlich” verzögere? Ich weiss, dass manche Richter sich zutrauen, die Verteidigerstrategie stets zu durchschauen, habe da aber Bedenken. Die Beweisregeln im Strafprozess lassen eine extensive Anwendung von ZGB 2 II ohnehin nicht zu.
Auch mit Blick auf die chronische Waffenungleichheit zwischen Untersuchungsbehörde und Verteidigung habe ich kein Verständnis dafür, wenn man beim Einsatz eines strafprozessualen Mittels gleich die Rechtsmissbrauchskeule auspackt. Im Übrigen vertritt die Verteidigung einzig und allein die Interessen des Mandanten.
Der Satz “Im Übrigen vertritt die Verteidigung einzig und allein die Interessen des Mandanten.” müsste wie folgt ergänzt werden “… oder (zumindest teilweise) die eigenen finanziellen Interessen, zumal die Verteidigung aus ökonomischer Sicht – meist ohne einem Kostenrisiko ausgesetzt zu sein (Stichwort: amtliche Verteidigung) – an einem möglichst lange dauernden Strafverfahren interessiert ist.”
@anna: Nun, Verteidiger leben von ihrem Beruf und haben selbstverständlich finanzielle Interessen (die Schweine!). Aber dass ein lange dauerndes Strafverfahren diesen Interessen dienen würde, ist – in der Regel – grundfalsch. Es stimmt höchstens, wenn man sehr vermögende Klienten vertritt, die zudem extrem hohe Ansprüche an ihre Betreuung stellen. Aber die werden von den Grosskanzleien mit ganzen Teams betreut, nicht von Verteidigern.