Motivationstraining
Nicht nur medizinische Laien wie ich haben Mühe mit der Vorstellung, dass unfreiwillige psychotherapeutische Behandlungen erfolgreich sein können. Forensisch-psychiatrische Gutachter und mit ihnen die Gerichte behelfen sich deshalb mit Formeln, wonach die erste Phase der Zwangstherapie der Motivation zur Therapie diene: Motivation zur Therapie als Therapieziel. Man wird also eingesperrt, um Motivation für eine Psychotherapie zu erhalten oder anders formuliert: man wird eingesperrt, bis aus der Zwangstherapie eine freiwillige wird. In den Gutachten und den Gerichtsentscheiden wird das dann jeweils so formuliert, wie es einem aktuellen Bundesgerichtsentscheid zu entnehmen ist (BGer 6B_648/2020 vom 15.07.2020):
Im Hinblick auf die Dauer der stationären Massnahme sei aus psychiatrischer Sicht eine langfristige Behandlung erforderlich. Die stationäre Massnahme sollte in einer geschlossenen forensisch-psychiatrischen Institution begonnen werden. Gemäss den gutachterlichen Ausführungen sei die psychische Störung des Beschwerdeführers grundsätzlich therapierbar – auch wenn sie nicht im Sinne einer Heilung behandelt werden könne – und auch dessen Behandlungsfähigkeit sei gegeben. Beim Beschwerdeführer sei zumindest eine minimale Motivierbarkeit für eine therapeutische Behandlung erkennbar. Das erste Therapieziel werde darin bestehen, bei ihm die Motivation zur Therapie zu wecken. Die Gutachter sprächen von längerdauernden Interventionen, wobei nur eine stationäre Massnahme zielführend sei; ambulante Massnahmen seien dagegen ungenügend. Die stationäre Massnahme sei damit das einzige geeignete, mithin erforderliche Mittel, um die Rückfallgefahr des Beschwerdeführers innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren deutlich zu verringern bzw. dessen Legalprognose zu verbessern. Auch stelle die stationäre Massnahme ein zumutbares Mittel dar, um der Gefahr, die vom Beschwerdeführer ausgehe, zu begegnen (E. 4.2, Hervorhebungen durch mich).
Fünf Jahre später stellt die Justiz dann in der Regel fest, dass die Therapierbarkeit zwar weiterhin bejaht werden müsse, das erste Therapieziel aber noch nicht vollständig erfüllt werden konnte. In den nächsten fünf Jahre könne aber die Rückfallgefahr deutlich reduziert werden. Im hier zitierten Entscheid sind wir aber erst im Stadium der Anordnung der Massnahme, welche gemäss Bundesgericht von der Vorinstanz überzeugend begründet wurde:
Einerseits habe [der Beschwerdeführer] anlässlich der Berufungsverhandlung angegeben, er sei genug kaputt gemacht worden, weshalb er eine ambulante Massnahme brauche; ein Setting nach Art. 59 StGB wolle er nicht, weil diese Massnahme wie lebenslänglich sei, da man sie alle fünf Jahre wieder verlängern könne. Andererseits sei dem Austrittsbericht der Justizvollzugsanstalt Solothurn vom 1. August 2018 immerhin zu entnehmen, dass sich der Beschwerdeführer zu Beginn der Massnahme durchaus absprachefähig gezeigt habe und er rasch aufgestuft worden sei. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz gestützt auf die Aussagen des Beschwerdeführers davon ausgeht, dieser lehne nicht die Behandlung an sich ab, sondern die Art, wie diese durchzuführen ist (Urteil S. 37), und damit auf dessen Motivierbarkeit schliesst (E. 4.4.3).
Da haben wir das schlagende Argument: Der psychisch schwer gestörte Mann hat ja selbst gesagt, er brauche eine Therapie, einfach in einem ambulanten Rahmen. Er kann sich somit nicht beklagen, wenn das Gericht daraus Motivierbarkeit für eine stationäre Massnahme ableitet. Zudem sei er ja früher absprachefähig gewesen. Letzteres hat zwar nichts mit Motivierbarkeit bezüglich Therapie zu tun, aber man schreibt das halt so in die Urteile.
So geschieht das schon mit Kindern. Die KESB Toggenburg hat kürzlich eine “Therapie” an einem 10jährigen Schüler bei der KJPD St.Gallen verfügt, obwohl die “Störung” beim stets bedrohlichen Vater liegt. Einerseits liegt ein Fachgutachten über den Schüler bereits vor, eine halbstaatliche Berner Interventionsgruppe hat aber einen realitätsfernen Gefälligkeitsbericht über den dort lebenden Vater dazu gemixt. Die KESB interpretierte nun beides als “gleichwertige Gutachten”, weshalb ein “Obergutachten” bei der KJPD fällig sei. Beim SG Kantonsgericht ist die KESB damit nun aber vollständig abgeschmiert. Das Gericht bezog sich auf diverse BGEs, wonach eine weitere “Psychologisierung” des Schülers, die über ein erstes Gutachten hinaus geht, für das Kind unzumutbar ist.
“Soweit er geltend macht, die vorinstanzliche Begründung sei unzureichend, womit sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei, ist ihm darin zuzustimmen, dass die Vorinstanz die massgebende Gesetzesbestimmung (Art. 15 StGB) nicht nennt und ihre Ausführungen zur (rechtfertigenden) Notwehr sehr kurz ausfallen.”
Wie kann ein Obergericht ein Urteil zur Notwehr fällen, ohne die Norm überhaupt zu nennen?
@kj: das Massnahmenrecht bleibt komplex (um nicht zu sagen teilweise unlogisch) und bedarf meiner Meinung nach einer “Totalüberarbeitung”.
Es ist auch so, dass – sobald einmal eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB verfügt worden ist – eine Aufhebung bzw. eine bedingte Entlassung aus Letzterer vor Ablauf von 5 Jahren eher selten ist.
Dennoch gilt es zu festzuhalten, dass bei den wirklich gefährlichen Straftätern mit der entsprechenden diagnostizierten schweren psychischen Störung (und das sind halt nun mal nicht wenige!) eine Anordnung der stationären Massnahme zwingend ist, sollte ein Behandlungserfolg als aussichtsreich beurteilt werden (über die psychiatrischen Gutachten als “Beweismittel” für das Gericht äussere ich mich hier nicht; dies wäre wiederum ein Thema für sich).
Was ist denn die Alternative, wenn ein solcher Straftäter (oftmals beraten durch seinen Anwalt!), sich von Beginn an konstant weigert, sich behandeln zu lassen bzw. die Massnahme anzutreten? Nach der Verbüssung der (aufgeschobenen) Strafe ist das Rückfallrisiko ja wieder dasselbe wie vorher. Eine ambulante Massnahme wäre zum Scheitern verurteilt. Bei solchen Fällen ist m.E. die öffentliche Sicherheit immer höher zu gewichten als das Interesse des Straftäters, wieder in Freiheit zu leben. Konsequenterweise bleibt dann nur die Anordnung der Verwahrung (Art. 62c Abs. 4 StGB).